Arbeitsnotate

Donnerstag, 12. Januar 2006

Probe

"Wie wäre es, die Hoffnungen zu tauschen, nur für einen Tag?
Wir tauschen sie hier und jetzt und leben sie für diese vierundzwanzig Stunden.
Morgen treffen wir uns wieder und werden wissen, ob sie Sinn haben, dann haben wir die Probe gemacht".


Arbeitsnotate

Mittwoch, 11. Januar 2006

Noch mehr Sylphenflüstern

Die Zeit vergeht, so sagt man.
Doch wir sind es, die vergehen, an Wandlung oder Stillstand gleichermaßen.
Nichts Neues ist unter der Sonne, nichts Altes weilt auf Erden.


[Sopran im Januarwind]

Arbeitsnotate

Montag, 9. Januar 2006

Loa

Ich breche die Sekundenzeiger, ihre Schwere ist mir unerträglich. Die Minutenzeiger tanzen den Reigen mit dem Später hinter der Biegung, schon vom Nebel verwischt, der in die Häuser kriecht. In Stundenzeigerintervallen will ich atmen und selbst das: kaum zu ertragen. Mir erschien es wie ein Augenblick, nun sagen sie, zehn Jahre seien vergangen, die ich nicht auffinden kann. Gestohlen von spitzen Fingern eines Diebes, der in meinen Lungen haust inmitten einer Klaviatur aus geballter Zeit, vom Spiegel zurückgeworfen, tatsächlich: Zehn Jahre. Spuren.
Morgen werde ich die Mondsichel auf die Zunge legen und auf solchem Amboß ein neues Weib in diese Haut treiben, die ich die meine nenne; einen neuen Geist, genährt von Wind, unter die Nägel gehetzt vom letzten Ausatemen der Ansammlung, welche Ich genannt wird - und ohne dass es anfänglich irgendjemand bemerkt, wird eine andere Person ihnen von diesen Lippen sprechen, sie anders sehen durch gleiche Augen, eine andere Frau wird sie berühren, die gleiche Luft atmend. Diese Frau wird Eßbesteck formen aus Sekundenzeigern und einen Sturm aus Minuten.
Sie, die dann ich ist.


[Noch mehr Sylphentext]


Arbeitsnotate

Tinnitus

"Man sagt, es sind die Geister, die demjenigen, der nicht spricht, ins Ohr flüstern. Das passiert aber nur dann, wenn man schweigt, wo das Sprechen der Seele Atem gäbe und das Schweigen es ihr nimmt".


[flüsterne Sylphen am Hang, an einer steilen Anhöhe: das Bild]


Arbeitsnotate
nur-ohr-karte

Mittwoch, 28. Dezember 2005

Muscheln

Die Strände der Kindheit entlanglaufen in von den Wellen längst verwischten Spuren. Du weißt nicht, was sich verändert hat, der Strand oder der Fuß, das Land oder Du. Nur das Meer; keine Welle wie die andere, jede einzigartig und jede neu; und doch ist nur das Meer ewig in seiner Wandelbarkeit, in seinem Vor und Zurück der Gezeiten, dem unendlich langsamen Herzschlag Gaias.
Du setzt Dich nieder wie bei einem lang vermißten Freund und erzählst. Die Geschichten des Landes und die Geschichten Deiner Füsse; wohin sie Dich trugen von hier, wie sie Dich immer zurücktragen an diese Stelle an der Du Dich niederkauerst, auf die Wellen blickst und Geschichten erzählst stundenlang in die smaragdgrünen Ohren der Tiefe. Bis Dir einfällt, Du könntest dem Meer keine neuen Geschichten erzählen, das Meer kennt alle Geschichten, auch die noch ungeschriebenen, weil die Geschichten, ebenso wie das Leben, aus dem Wasser kamen. Sie krochen an Land hinter den Lurchen und den Lungenfischen und krabbelten über die Schuppen der Reptilien. Sie saßen im Kiefer des Krokodilgottes und wurden mit dem Nil zurück ins Meer gespült. Die Geschichten bauten die Tempel und die Paläste, sie bauten Kulturen und nahmen sie wieder mit an den Grund des Meeres. Es gibt keine Geschichte, die das Wasser nicht kennt. Jedes Mal, wenn Du hier sitzt, wird Dir das von Neuem klar. Dann lächelst Du, gräbst mit den Füßen im Kies und öffnest die Ohren, die nur Muscheln sind, fällt Dir ein.



Arbeitsnotate

Ulmenjahr

Sonntag, 20. November 2005

Bura II

Über das ganze Bett verstreut und mittendrin saß sie, das Haar wirr, die Wimperntusche hatte dunkle Linien auf ihren Wangen hinterlassen.
Sie begann, die Briefe zu zerreißen; nicht wild, sondern ein Blatt nach dem anderen riß zwischen ihren Fingern; fast säuberlich ging sie zu Werke, verlängerte das, was noch übrig war, zögerte es hinaus in einem Taumel aus blinder Enttäuschung.
"Warum tust Du das?" flüsterte es von irgendwo her, aus ihrem Innern, aus einer anderen Zeit, als sie dieser Stimme noch traute.
Sie antwortete nicht, hielt nicht inne. Brief für Brief ging in Fetzen, von ihren frischen Tränen zerlaufene Sätze wurden in der Mitte zerrissen. Hier würde sie es konservieren, das Übriggebliebene, das ehemals Gute, den Rest des Glücks. Jeder weitere Schritt bedeutete den Abgrund, in dem er nicht anders war als alle anderen; und darum würde sie genau hier, auf den Klippen der Ernüchterung, ein Denkmal errichten aus Tränen, zerrissenen Briefen und Dämmerung.


[Notat zur Erzählung "Dämmerung"]



Arbeitsnotate

Samstag, 8. Oktober 2005

Latte Macchiato.


16:42 CET, an einem Freitag

Sie, in der Nachmittagssonne den Schaum auslöffelnd: "Und was machst Du heute noch?"
Er: "Mich ins Bett legen und schlafen".
Sie: "Jetzt schon?"
Er, seufzend: "Ja. Um sechs Uhr aufstehen macht mich fertig", - schiebt die Zuckerdose beiseite. "Und Du?"
Sie: "Heim fahren. Und weinen".


Rubrik: Arbeitsnotate

Freitag, 7. Oktober 2005

Eierschalen.

Literarisch für Depression:
Es müde sein, aufzuwachen.


Rubrik: Arbeitsnotate

index

Mittwoch, 21. September 2005

Frauensache.

Das Laub umweht mich mit meinem Haar. Dort spüre ich den Herbst unmittelbar, der abendliche Bürstenstrich wird liebkosender, dort wirft sich Borstenhorn auf Menschenjahre, in jeder Strähne ein Tagebuch meiner Träume und eine Chronik meines Lebens; Zentimeter für Zentimeter eingeschlossene Zeit, die zwischen den Borsten glattgestrichen wird: Das Gelächter von 1998, schwimmend in der nächtlichen Adria; Stunden am Computer, umgarnt von trockener Heizungsluft und dem zärtlichen Maunzen der Katze; salzige Tränen aus vergessenen Tagen und vergessenen Anlässen; der herrlich vollmundige Sarde, königlich gekeltert, klammert die Abende bei Kerzenlicht und die Telefonate in der Dunkelheit auf einer eigenen Spur mitten in den sonnengebleichten Strähnen.
Es ist mein Haar, das sich erinnert.
Nikotinspuren, die Kälte auf den Weihnachtsmärkten, das bittere, karge Brot von 2000, Fahrtwind durch halboffene Fenster, der Duft des Frankfurter Flughafens im Januar. Schicht für Schicht Erinnerungen, jede Zwiebel, jedes Glas Wasser, jede Zigarette - Spuren.
Die Bürste fährt herbstzärtlich durch Oliven und Kaffeehäuser, Prosecco und Blicke, Schweiß und Herzschlag, Feste und simplen Knoblauch. Streicht durch Jahrzehnte, streicht das Leben gen Vergangenheit glatt, die Zukunft schon unmittelbar unter der Kopfhaut.


[Notat/Impression zur späteren, auszuarbeitenden Verwendung in "Ulmenjahr"]



Rubrik: Arbeitsnotate

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Samstag, 17. September 2005

Silvester. Fragment 1

Zagreb, 18.12. 2001

Die bis auf den letzten Platz gefüllte Tram spülte sie an, spülte sie mitten in sein Augenmerk, in seinen schweifenden Blick, plötzlich aufgefangen vom Erstaunen ihrer Züge, der aufblitzenden Freude, ein Winken, sie rief seinen Namen, winkte freudig mit dem Handschuh um seine Aufmerksamkeit, die längst schon ihr allein gehörte, schwamm durch die ineinander rückenden Menschen, die gedrängten Leiber auf ihn zu, während er nur da stand und sie anblickte. Überrascht stellte er fest, dass er erwartet hatte, ihre Mimik verändert zu finden, vielleicht etwas Asche in ihren Mundwinkeln oder verborgene Runen auf ihren Wangen, die nur er sehen könnte und die ihm erzählen würden d a v o n. Er suchte ihr Gesicht noch nach Spuren ab als sie schon vor ihm stand. Die Tramvaj bog da in die Ilica ein, einige Leute drängten zu den Türen und drückten sie beiseite, er starrte mit trockener Kehle, sein Herz schlug, als könnte er es mit einem Würgen ausspucken und mit ihm die Erinnerung, starrte auf ihre Stirn, ihren Hals, die Nase, die Schläfen, die Wangen, und fand ihr Antlitz so vertraut als wären nicht Jahre sondern Tage vergangen. Die Wärme dieser Empfindung blitzte kurz auf, dann ballte der Klumpen sich wieder, stieg unaufhaltsam in Richtung Zähne, zerriß das weiche Gefühl im Rachen und drückte den Atem so flach wie ein Knebel.
Zur Salzsäule Erstarren: Auf einen Moment geballtes Leben, das herausgepreßt wird wie Saft aus einer Zitrone; übrig bleibt eine Hülle, etwas Kraftloses, das in Linie Sieben der Zagreber Tramvajwerke nahe der Tür steht und starrt, brennend hohl. Ohne Atem für ein Wort. Dafür brüllt es sich aus den Augen. Und die Frau, ein wenig außer Atem, über dem roten Schal schon den Mund öffnend zum Gruß, verstummte vor dem ersten Laut.

Blickte ihm direkt in die Augen. Ein unmerkliches Weiten der Pupillen. In diesem Blick brannte er aus. Das, was noch übrig war von ihm. Vollständig. Nur das Erinnern, das nicht. Das würde diesen Moment für immer festhalten in täglich neuer Inszenierung.
Da war er ausgestiegen, eine Haltestelle nach ihr, die ohne ein Wort sich abwandte und floh; nur er konnte die Flucht in ihren stoischen Schritten sehen; sah, wie der Handschuh, maulbeerrot, fiel. Hob ihn aus dem Salz und dem feuchten Winterschmutz der Tram, floh ebenso hölzern und mechanisch. Acht Haltestellen lief er und war so leer, dass er nur die Tramvajs der Linie Sieben zählte, die an ihm vorbeifuhren. Konnte keinen Gedanken fassen. Stapfte monoton durch das schnell fallende Dezemberlicht, das von überall angebrachter Weihnachtsbeleuchtung durch die Nacht gerettet wurde. Wenn er wäre wie der Schnee, dachte er schließlich, auf die dichter werdenden Flocken blickend, dann könnte er es einfach bedecken, verschlucken mit einer Ruhe aus Vergessen und Weiß. Und irgendwann schmelzen, einem neuen Frühling weichen.



[Fragment aus der Erzählung "Silvester", die grade entsteht. Da ich unterwegs bin und es nicht speichern kann, hinterlege ich es vorläufig hier]



Rubrik: Arbeitsnotate


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