Ulmenjahr

Donnerstag, 25. August 2005

Sweet Abyss VI.

"Dort drüben", ihr Finger zitterte gegen den Horizont.
"Das Schwere war immer gegenwärtig an diesem Ort. Wenn Du hingehst, nimm die Schuhe von den Füßen, denn dieser Ort ist der Dunkelheit heilig. Sprich nicht. Wenn Du nicht zu schweigen weißt, wird die Schwere Dich töten".


(Jolanda zu Ysaj in Ulmenjahr)

Montag, 8. August 2005

Rechen.

Die Einladung hatte ihren Sinn. Ein Abend, fein arrangiert in sanfter, kohgetränkter Atmosphäre zur Vertiefung des musikalilschen Erlebnisses. Alles war perfekt, bis ihm auffiel, dass die Platzkarten durcheinander geraten waren. So kurz vor Konzertbeginn hatte es keinen Sinn mehr, herauszufinden, wem der Fehler unterlaufen war, noch war es wichtig in der drängenden Zeit. Er telefonierte fieberhaft, nach fast zwei Stunden hatte er endlich herausgefunden, wer ihre Karten erhalten hatte und erging sich gegenüber der opulenten Stimme am anderen Ende der Leitung in Erklärungen und Entschuldigungen. So kam es, dass sie während der Darbietungen in der ersten Reihe saß; allerliebst arrangiert vom Veranstalter, fast schon schmeichelhaft, während die Melodien an ihr vorbeizogen wie Soldaten einer Parade. Sie wußte nicht, warum die Musik sie nicht erreichte, warum der Sitzplatz ihr ohne scheinbaren Grund unangenehm war ebenso wie der ganze Abend, auf den sie sich gefreut hatte oder warum sie das unbestimmte Gefühl beschlich, etwas versäumt zu haben. Der Abend verlor seinen Sinn wie ein Blatt von fließendem Wasser mitgenommen wird, getragen ins Verlorene. In der letzten Reihe, neben den zwei leeren Stühlen, empört unbesetzt belassen von einer gekränkten Dame und ihrem Begleiter, saß ihr Schicksal, blind wie sie und plötzlich ohne Ziel.



Rubrik: Ulmenjahr

Freitag, 5. August 2005

Gänseblümchen.

"Wohin fallen die ausgerissenen Blätter in dem Spiel Liebt-mich-liebt-mich-nicht wenn nicht in den Abgrund?"
"Sie fallen zu Boden. Einfach zu Boden, Ysaj".
"Warum bist Du Dir da so sicher?"
"Ich sehe es doch".

Da war es. Das plötzlich hervorbrechende Lachen, in seiner schmutzigen, brutalen Intonation, fast schon hämisch und ihr selbst vollkommen fremd, als habe sie ihre Stimme dem Abgrund geliehen, der die Laute ausspuckte zu einer weiteren Kluft zwischen Ysaj und ihrer Haut. Abgestossen und amüsiert zugleich lachte sie. Es lachte. Es lachte sie. Beide.


Rubrik: Ulmenjahr

Dienstag, 2. August 2005

Blut und Sprache. Variation VIII

Er rettete ihr das Leben mit diesem einen Wort, das lange unausgesprochen zwischen seinen Rippen schlief, zwischen Herz und Zwergfell Zwerchfell, dort, wo der Atem die Krusten der Jahre umweht. Zweimal hatten sie einander davor heimlich geküsst, nur in ihren Gedanken, ohne das Wagnis, es auszusprechen oder das Elementare, ihre Lippen aufeinander zu legen. Er formte das Wort leise, zärtlich, legte es auf die Federn sanfter Schwingen und es erreichte ihr Herz noch vor dem Trommelfell, legte sich mit einer Wucht um ihr Leben, wie nur Wahrheit es vermag; diese: Wahrheit, die nicht gesaugt wird aus den Bedürfnissen des Ich, sondern uns zufliegt aus den Rinden der Bäume, dem Takt der Jahreszeiten und dem Rauschen der See.
Seine Sicherheit war nicht die des Kampfes oder der Liebesschwüre. Sein Wort trug die Sicherheit des Atems und der Wandlung, es trug diese einzige Konstante mitten in den Durst, der sie beide hierher geführt hatte. Ihr Herz nahm den Takt dieser Sprache auf und pumpte ihn in jedes Atom ihres Körpers. Und es wurde Licht; ja: es wurde Licht.



Rubrik: Ulmenjahr


[Der Segen des Schweigens - und des konzentrierten Wortes]

Sonntag, 31. Juli 2005

Jasminblüten.

Ihre Schritte jagten die anderen Geräusche der Nacht, als könne dies den Kreislauf durchbrechen, das Stigma von ihr nehmen. Wie ein Pendel bewegte sich das Amulett unter der Bluse zwischen ihren Brüsten, doch würde es immer nur ins Zentrum ausschlagen; es gab keinen anderen Buchstaben und die Saat würde immer jene der Titanen bleiben. So viel Liebe war dort versammelt, dass sie alles zermalmte, das sie berührte. Sich jemandem zuwenden heißt, ihn in dieser Flamme verbrennen, bis man selbst erloschen ist; unter die Ulme gehen bedeutete, es weiterzugeben an die Jahrhunderte. Eben das wetzt der Zeiten Zähne. Nicht Jolanda lief durch die Nacht. Es war die Zeit, die, sich selbst jagend, Pirouetten schlug.


Rubrik: Ulmenjahr

Mittwoch, 27. Juli 2005

Pfauenauge.

"Wenn die Worte ausrinnen", sagte Jolanda, "hohl werden, spröde wie Laub, dann zähle die Tränen. Das ist auch mit Schönheit so".


Rubrik: Ulmenjahr

Donnerstag, 7. Juli 2005

Argus, Variation VI.

"Das ist so", sagte Jolanda, während sie ihre breiten Rundungen in die Kissen des Sessels drückte und einen Schluck Rotwein nahm. Sie liebte den herben Geschmack von reinem Sangiovese, wenn sie trank, erhöhte sie die Spannung ihrer Zuhörer durch die unerhörte Fähigkeit, einen Moment sozusagen aus den Gesetzen der Zeit zu lösen. Sie dehnte ihn, gab ihm Länge, Geschmack; Ungeduld, ließ die Spannung steigen und ihn verlängern, danach ertänkte sie seine Verbindung zum Sekundenzeiger im Rot des Weins, betrachtete das Glas, hielt es gegen das Licht, schlürfte und kaute den Augenblick zu Minuten, die im Nirgendwo verweilten, um darauf in einem ersten Laut zu münden, der eine Erregung in den Zuhörern entfachte, welche sich plötzlich wieder in einem Kontinuum aus Raum und Zeit wiederfanden, das Pendel der Uhr in den Ohren, Frau Jolanda in ihrem Ohrensessel und das Weinglas vergessen.

"Das ist so", wiederholte sie, "und es ist dem einem Neffen aus der Nachbarschaft meiner Schwägerin so ergangen, als sie noch in Borko wohnte. Niemand weiß, wann es geschah, aber der Kleine Geist fuhr aus ihm. Er lerne für das Leben und nicht für die Schule hatte ihm der Dorflehrer gesagt und so kam der kleine Predrag auf die Idee, die Buchstäblein und Zahlen, die der Lehrer an die Tafel schrieb, seien das Leben. Er lernte sie fleißig und unermüdlich und eines Tages verließ der Kleine Geist ihn. Wie sollte dann noch ein Großer Geist in ihm Platz finden?"
Sie nahm einen weiteren Schluck, sinnierte ihn mit der ihr typischen, zetilosen Mimik und fuhr, aus dem Fenster blickend, fort: "Jedem kann das passieren, das ist eine moderne und tückische Krankheit. Der Kleine Geist entfährt einem und man merkt es nicht. Die einzige Methode, die bekannt ist, um herauszufinden, ob die Seelentür noch offen ist, besteht darin, die Person zu greifen und ihr mit leichtem Druck in das linke Ohr zu pusten. Das kann gefährlicher sein, als Ihr denkt. Nicht jeder Betroffene möchte die Tür wieder öffnen. Oder weiß auch nur darum, dass der Kleine Geist entwichen ist. Und so war es auch mit dem Neffen der Nachbarin, das halbe Dorf hat es gesehen. Seine Geliebte blies ihm ins linke Ohr und er fiel tot um, lag da auf dem Marktplatz und war weiß wie ein Fischbauch".


Rubrik: Ulmenjahr

Sonntag, 12. Juni 2005

Krypton.

Ich bin es leid. So leid.
Es gibt keine Luft, die ich unbemerkt atmen könnte.
Es gibt kein Salz, das meinen Tränen gleicht.
Und wo soll diese Märchenwelt sein, in der ich geduckt gehen könnte in der Masse?
Ich meine nicht, dass ich es je w o l l te....
aber ich bin wütend ob der fehlenden Wahl; der verwehrten.

Ich meine: Ich bin es leid, im Scheinwerferlicht Eurer kleinen Funzeln zu gehen(.)(,) welche die Neugeburt eines Fixsterns fürchten. Leid. Und dem ist gut so. Für das Jetzt und das zweifelhafte Hier.
Als wenn wir einen Kuchen aus dem Ofen holten, der nun aufgegangen ist. Das ist es in mir, was Ihr alle Leid seid.
Hier ufert es. Sättigt sich. Liegt brach. Zerfällt an Euren unsteten Schritten!
Mein Ding hier, das Eure, das ist nun aufgegangen.
Ding. Aufgegangen. Sonne nicht. Nur Hefeteig.
Was nähert Ihr Euch leutselig, schaulustig, sensationslüstern, seicht?

Seit ich mich einer Lunge entsinnen kann, geifert Euer Ungemach mir entgegen. Eine winzige Liebe, die in Abschied bis Hass umschlägt. Eine Kriegserklärung gegen meinen Herzschlag.
Sprich mir doch nicht von Leben. Du Feigling.
Oh nein. Du wagst es tatsächlich, mir von Liebe gesprochen zu haben.

Ach ja, und das Gras. Das Wichtige.
Der Seher, Deuter, Kelchträger.
Der Kompromiß ist das, was wirklich verreckt, gehäutet, in der Nemesis zwischen Kurzgras (Herde) und Langgras (Leopard).
Das blasse Erzwingen. Das Notwendigkeiten Melken.
Die eherne Maske vor der Verletzlichkeit.



[Das Antlitz, aus
ein
ander
genommen.
Im Spiegel.]




Rubrik: Ulmenjahr

Dienstag, 3. Mai 2005

Pluto.

Ihre Hände hatten den Boden seit Monaten nicht mehr verlassen. Sandkorn für Sandkorn kritzelte rote Spuren auf ihre Netzhaut, die Winde trieben die Wüste vor sich her, trieben den Körper weiter und verwischten seine schleifende Spur im heißen, schneidenden Sand. In manchen Nächten kam der Schakal so nahe, dass sie seine Körperwärme auf ihrer Haut spürte. Nichts Animalisches war mehr an ihm; er war Anubis, er wartete darauf, ihre Seele zwischen seinen Zähnen davonzutragen an einen geheimen, unbekannten Ort. Der Körper würde zurückbleiben, erblindend, mit überwachen Ohren, sensorisch und stumm.

Tage zerflossen zu Wochen, Wochen zerrannen in Monate und sie kroch immer weiter, wünschte sich das Herz herausgerissen, gut abgehangen, um sich aus seinem Leder Schutz für die Hände zu kauen. Sie war jenseits ihres Willens angekommen, eine Fata Morgana in der Erinnerung ihrer Vorsätze, zwischen Vergessen und Phönixtraum, so dass sie zuweilen selbst glaubte, am Ende dieser Wallfahrt zu sein, aus der die Seele ins Nichts verschlungen würde. Diese Momente ließen den Schakal näher kommen, Überlegenheit formierte sich in seinem Blick zu zielstrebiger Gewißheit und er schlich jede Nacht näher und näher an sie heran, faßte Vertrauen zu ihrer Schwäche, belauerte ihren Wahnsinn.

Als sie seine Kehle durchbiss, liebte sie ihn - als sein Knurren zu einem Winseln erstarb, seine heftige Gegenwehr zerbrach und sich zu einem Mantel des Überlebens ausbreitete, empfand Ysaj Mitleid mit dem Tod.


Rubrik: Ulmenjahr

Dienstag, 26. April 2005

Nomen.

Eingewickelt in meinen Namen, umhergetrieben, Duft steigt auf von den abgestreiften Schlangenhäuten, eine Welt nach der anderen liegt zermalmt in ihnen, siecht dahin, tritt ab, begleitet vom eigenen Geruch. Jeder Name, der mir von Euch gegeben wurde, wickelt mich in neue Häute, in Identitäten, Funktionen, wickelt mich in Felle, in Schuppen, in kleine Panzereinheiten aus Wärme und Horn; ich bin überzogen mit ihnen wie eine Schlafstatt zur Hochzeit oder eine Totenbahre im Sommer.


[Aus einem Brief Ysajs]


Rubrik: Ulmenjahr


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