Die Wahrheit und das Wahre III

Sie musste damals etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein und verbrachte den Sommer mit ihrem Vater an der Küste. Wie schön das Meer war. Wie sie jede Welle liebte. Und da sie nur einmal im Jahr dort war, entging ihr keine Veränderung. Frisch gestrichene Fensterläden, die letztes Jahr noch windgegerbt ihre ausgeblichenen Farbreste in den Hof blätterten, der neue rote Spaghettitopf der Nachbarin, ein neuer Spiegel am Auto des Onkels und der Hund von gegenüber, der plötzlich lahmte - alles Beobachtungen, die den Ansässigen schon wieder Gewohnheit waren, nicht mehr ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie zählte die Tomaten in Vaters Garten, die jedes Jahr üppiger wuchsen; sein Tempera auf Glas Bild, das er noch vor ihrer Geburt gemalt, hatte einen Sprung im Rahmen. Sie fragte den Vater, wie das passiet sei - er wusste es nicht mehr. Alles in allem waren es kleine Dinge, die sich in dieser mediterranen Welt veränderten. Diese Welt war ein Schiff auf See, das außerhalb der Zeit die Meere befuhr und doch so gar nichts Geisterhaftes an sich hatte; unter der gleißenden Sonne des Südens lag sie weit sichtbar und oft besucht von Freunden, Nachbarn und Verwandten. Im Mohnkuchen, seit Generationen auf die gleiche Weise gebacken, lag Sicherheit, sein von der Meeresluft getränkter Geschmack war Heimat. Die Einen kochten auf Öl, die Anderen, aus dem fruchtbaren, bäuerlichen Flachland zugezogen, auf Fett - so nannte man es. Weil sie alles in Tierfett bruten, ja sogar die Gemüsesuppe setzten sie darauf an. Nur beim Kuchen waren sich alle einig über die Butter. Und somit war auch das geklärt und man zelebrierte das friedliche Miteinander mit Kuchen, um den Gaumen des Anderen nicht mit Andersartigkeit zu beunruhigen. Das zeitlose Schiff fuhr gemächlich, die Uhren tickten langsamer dort, sagte man. Muscheln gab es und Feigen und so süsse Tomaten, dass man sie wie Äpfel aß.
Ihr fiel auf, dass die greise, nach 17 Jahren noch schwarzgekleidete Witwe jetzt auch Flaschentomaten hatte. Im letzten Sommer waren in ihrem Garten nur Fleischtomaten gestanden. Ihre Tochter trug jetzt kräftige Farben auf den Fingernägeln, das war früher nicht so. Und der arbeitslose Tagelöhner, der etwas außerhalb wohnte, trank nicht mehr.

Als ihre Mutter, die sie sechs Wochen zuvor noch gesehen hatte, sie abholte, wirkte diese erholt und ausgelassen. Auch ihr Sommer war schön, wenngleich arbeitsreich gewesen.
"Schau mal", sagte sie, mütterlich lächelnd, "ich war bei der Pediküre".
"Was ist eine Pediküre, Mama?"
"Das ist eine Maniküre an den Füßen", lachte die Mutter und streckte ihren riemchenbeschuhten Fuß vor. "Und?" fragte sie. "Wie sieht es aus?"
"Schön" antwortete sie, weil der Mutter Fuß wirkich schön war. Schon immer.
Aber sie sah nicht, was die Maniküre für die Füße gemacht haben sollte.
Sie sah keinen Unterschied.




[painting by Rade Kačarević, oil on canvas]

starigrad
Markus A. Hediger - 26. Nov, 11:43

"Sie sah keinen Unterschied"

in der Schönheit.

(Ein Text von der Schönheit der glücklichen Füsse einer Mutter. Kompliment. Ohne Ausrufezeichen, denn es wäre zu laut für diesen ruhigen Text.)

TheSource - 26. Nov, 13:15

Es handelt sich dabei

um ein Fragment. Tatsächlich hat die Geschichte noch einen zweiten oder vielleicht anderen Plot. Das Kind kam sich nämlich dumm vor, den Unterschied nicht zu sehen und dieses Ausgeschlossensein aus der Wahr-Nehmung der Anderen ist symptomatisch (und prägend). Sie, die alles sah, sah keinen Unterschied. Und im trotzigen Inneren darauf beharrend, dass da auch keiner war, wo einer sein sollte, setzte sie dem Kindlichen Bastion.
Aber sie spricht es nicht aus, wiewohl dann die Umwelt es fühlt und das wenig begeisterte "schön" als Kälte und Desinteresse (miß)interpretiert.

Das Fragment passte aber in dieser unverschachtelten Weise besser zum Variationsthema, vielleicht lasse ich es auch im Späteren unverändert; dieser leise Ton gefällt mir (heute) ebenfalls und man sollte es nicht überfrachten, da haben Sie vollkommen recht.
Haben Sie Dank für Ihr Kompliment *lächelt.
Markus A. Hediger - 26. Nov, 20:42

Worin

sah sie keinen Unterschied?
Mein erster Kommentar war der Versuch einer Antwort: Die Schönheit der Mutter ist dem Kind unveränderlich.
Dennoch, weil ich Ihrem Text gerecht werden will und nicht hineininterpretieren will, was nicht ist:
Sah sie den Effekt der Pedicure nicht?
TheSource - 27. Nov, 09:54

Das ist mir nun wieder unverständlich *zwinkert

Wieso sollte einem Kind Schönheit unverständlich sein? Das ist eine sehr erwachsene Betrachtungsweise. Gerade Kinder erfahren die Schönheit unmittelbar, für sie ist alles Wunder, alles Staunen.
Sie sah keinerlei Effekt der Pediküre, ja.
Markus A. Hediger - 27. Nov, 09:58

"unveränderlich"

nicht: "unverständlich"!
TheSource - 27. Nov, 10:02

Unveränderlich.

Der Fuß sieht aus wie er vorher aussah.
Kinder haben weiche Füße und brauchen keine Pediküre.
Es war überhaupt nichts Neues am Fuß. Dahingehend unveränderlich, stimmt.
Das Unverständliche ist: Da soll was sein und man sieht es aber nicht.
bvl - 26. Nov, 15:36

Und somit war auch das geklärt und man zelebrierte das friedliche Miteinander mit Kuchen, um den Gaumen des Anderen nicht mit Andersartigkeit zu beunruhigen.

was fuer leichtigkeit der erzaehlung und was fuer tiefer einblick

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