Verhandlungen mit Romanfiguren III

Ihr Schatten streift meinen Schlaf und ich schrecke aus einem schweren Traum, dessen Inhalt mir sofort wieder entfällt. Dunkel und glatt wirken ihre Züge im Flackern der einzigen Kerze. Sie hält den Zettel in der Linken, auf den ich am Abend mit müden Fingern schrieb: "Ich schlafe heute Nacht auf dem Sofa und lasse eine Kerze an für Dich", bevor ich mein Nachtlager im Wohnzimmer aufschlug. Nein, sie ist keine Traumgestalt, sie ist so real wie ich oder so irreal wie ich - es macht keinen Unterschied, schon lange nicht mehr. Wer nicht intensiv schreibt, kann das nicht verstehen. Diese Plastizität der Figuren, ihr Leben, ihr flüsternder Atem, das morgendliche, geteilte Brot, ihre Anwesenheit bei jedem Schritt. Sie treten aus der Skizze für die nächste Szene und stehen plötzlich am Schreibtisch. Lassen nicht zur Ruhe kommen. Wollen Antworten. Wollen Fragen. Verlangen nach Kaffee, Wein, Zigaretten. Oder sitzen mitten in der Nacht neben uns, die wir ihnen ein Licht brennen ließen, auf dem Sofa.
"Ich habe gehört, wie er sagte, in Euren Texten sei so viel Blut*. Ob er wohl die ganze Bedeutung dieser Worte versteht? Du hast ihm nur die halbe Erklärung gegeben, so wie Du alles nur halb tust und somit am Ende nichts tust... Chianti?"
Beklommen nicke ich und sie nimmt das halbvolle Glas vom Tisch, hält es gegen das Licht. "Die Italiener verstehen etwas vom Wein. Und wir ja auch". Trocken lacht sie auf: "Roter Wein, rote Teppiche, rote Kleidung. In Deiner nächsten Wohnung wird sicher eine Wand rot gestrichen sein".
"Du weißt genau, dass ich lieber Weißen trinke".
"Aber Du trinkst seit Monaten Roten".
"Ja".
"Weil Winter ist".
"Ja".
Tief taucht ihre Nase in das durch Schwenken neu belebte Aroma. Lange und mit geschlossenen Augen zieht sie Molekül für Molekül ein, bevor sie einen Schluck trinkt. "Zu jung", dann ihr Urteil. "Wir waren mal Besseres gewohnt. Bevor wir auf den Hund kamen".
"Wenn Du gekommen bist, um Beleidigungen loszuwerden, spar Dir die Mühe. Seit Wochen renne ich Dir hinterher und bin einfach zu müde für dieses Geplänkel".
"In Ordnung". So abrupt stellt sie das Glas ab, dass die Obertöne noch lange nachhallen. Wir lauschen beide, bis sie verklungen sind. "Wie Du willst. Kommen wir zur Sache: Ich sterbe".
"Das ist unmöglich! Jeder Buchstabe, den ich schreibe, gibt Dir neues, ja: unsterbliches Leben".
"Nein".
"Nein? Schau Dich doch um, Ysaj! Skizzen zum Roman liegen herum, ganze Passagen sind gespeichtert auf CD, auf der Festplatte. Wie kannst Du da sterben?"
"Jolanda hat recht, Du begreifst es einfach nicht". Sie spricht so leise, dass ich kaum höre, was sie sagt, meine Nackenhaare aber begreifen und stellen sich auf: Die Ruhe vor dem Sturm, das fast sanfte Raunen vor dem Orkan.
"Ja, wir sind uns zu ähnlich, nicht wahr?" fragt sie schneidend. "Dieses immer ruhiger und stiller Werden bevor das Rot alles um uns herum in Trümmer legt".
"Das war einmal".
"Du willst sagen, das war bevor Du es mit schwarzer Tinte auf weißes Papier gebracht hast, gut versteckt in Deinen Buchstaben. Bevor es meins wurde".

Ich seufze. "Vielleicht ist das so. Vielleicht verstehe ich auch einfach nicht. Vielleicht habe ich Dich nur erschaffen, damit Du es mir sagst, darauf willst Du doch hinaus, oder?"
"Nein, wir sind mehr als nur das".
"Wir?"
"Jolanda hat Dir etwas gesagt beim Abwasch, hast Du das vergessen?"
"Sie hat es zu Dir gesagt!"
Ihr Lachen ist bitter: "Ist das nicht das Gleiche? Denkst Du, nur weil Du es geschrieben hast, sprach sie zu mir?"
"Gut, nehmen wir an, sie sprach zu mir. Nehmen wir an, sie wollte mir etwas damit sagen. Das beantwortet aber nicht meine Frage".
"Welche Frage?"
"Die Frage, nach der Du seit Wochen verlangst um sie mir dann nicht zu beantworten, Ysaj! Woher dieser Zorn?"

Schweigen. So dicht, dass sich die Stille zäh gen Boden tropft. In diesen endlos scheinenden Minuten höre ich die Katzen, wie sie durch den Garten schleichen und den Schlaf des Spechtes. Wir haben keinen Atem. Er ist im Zyklon des Sturmes gefangen, im noch nicht gefallenen Regen, in den Tiefen der Meere. Wie kann das sein? Wir haben keinen Herzschlag und sind doch schon alt, wissen um die beißende Kälte auf der sonnenabgewandten Seite des Uranus und die dunklen Nächte bei einem einzigen, winzigen Licht.
"Wer bin ich?" fragt sie plötzlich.
"Du bist Ysaj".
"Wer bin ich noch?" fragt sie, schenkt sich nach.
"Das habe ich noch nicht geschrieben".
"Weil Du es nicht kannst!"
"Das stimmt doch gar nicht, Ysaj".
"Ysaj!Ysaj! Immer Ysaj! Hast Du keinen anderen Namen für mich mit deinen lieblosen Tintenschmierereien? Ich sterbe!"
"Lieblos? Was in aller Welt redest Du denn da? Lieblos?"
"Du kannst es nicht schreiben weil Du nie geschrieben worden bist! Ist Dir das denn nicht klar?"
Ich nehme die Flasche vom Tisch und einen kräftigen Zug. Der Nacken brennt, während der Tod kalt und salzig aus ihm austritt.
"Ich wurde nicht geschrieben? Von wem? Wer schreibt das alles hier, Ysaj?"
Ihre Erregung wirft unsichtbare, spitze Funken.
"Du hast die Buchstaben nicht! Du hattest sie nie! Du kannst Liebe schreiben aber sie wurde nicht für Dich geschrieben. Darum sterbe ich, weil Du nur diese vier Buchstaben für mich hast".
"Vier Buchstaben? Was soll das jetzt bedeuten? Was willst Du, dass ich schreibe? Sag es und ich werde es schreiben!"
"YSAJ. Vier Buchstaben! Manchmal findest Du auch die üblichen drei: SIE. Ich will mehr als das, ich kann so nicht existieren, verstehst Du das nicht?"
Kopfschüttelnd stelle ich die Flasche zurück auf den Tisch. "Nein", hilflos hebe ich die Hände.
"Dann sag YSAJ mit anderen Buchstaben, sag es zärtlich! Schreib es hin".
"Ich kann nicht, Ysaj". Der Tod nun auch in den Handflächen, mein Tränen sind mir fremd, als liefen sie ein anderes Gesicht hinab. Und tatsächlich: Sie weint.
Wir schweigen bis zum Morgengrauen, bis der Specht seine Augen öffnet und die Meisen auf der Terrasse tippeln. Dann, endlich, greife ich zum Füller.

Ich habe Ysaj nie gesagt, dass ihr Name eine Kosung an sich ist, die rückwärtige Buchstabierung eines Kosenamens, denn Ysaj bewegt sich rückwärts durch meine Zeit. Sie aber wollte einen Kosenamen, den sie längst innehatte, Buchstaben, die ich ihr gab, damit sie nicht einsam sei unter den sterbenden Ulmen, einen Platz fände in sich selbst, an dem sie nisten und ruhen kann. Ins Leben treten. Und während ich dies schreibe, erinnert mich Ysaj daran, dass ich nie lange bei Menschen blieb, die mir keine Kosenamen gaben; nie vertraute ich dem Leben genug, die Buchstaben einzufordern und darum verließ ich sie oder sorgte dafür, dass sie mich verlassen.
Es ist Ysaj, die diese Worte schreibt in einer möglichen Zukunft. Es ist Jolanda, die diese Worte schreibt in einer sich ständig verändernden Vergangenheit. Meine Buchstaben sind ungeboren wie ich, sie ruhen im Auge des Sturmes, im noch nicht gefallenen Regen, in den Tiefen der Meere, einem Dasein ohne Atem.



[*parallalie über meine und Markus A. Hedigers Texte]
Markus A. Hediger - 22. Feb, 13:50

Blut ist

der Aus-Druck des Wortes. (Ich hätte das auch im Chat geschrieben, aber es war ein zu grosses Durcheinander da für einen Ungeübten wie mich:) Drückt man lange genug an einem Wort herum, fliesst Blut. Unweigerlich.

parallalie - 22. Feb, 14:55

das ist metaphorisch leicht nachzuvollziehen. mir war es nur schon lange aufgefallen, wie besonders in Ihren texten es auch ein ver-bluten ist, wo die metapher sich konkretisiert. dann aber würde das wort inhaltlos werden. wie es etwa dann geschieht, wenn man sich ein wort so lange immer wieder vorsagt, bis nichts mehr bedeutet. fast schon so etwas (mag wohl auch angesprochen worden sein) wie eine suche nach etwas "primordialem". wofür meinethalben ein Gilgamesh stehen mag.
TheSource - 22. Feb, 15:14

Ein Mantra wiederum

bedeutet grade ob seiner scheinbaren Bedeutungslosigkeit.
Es ist eine altbekannte - und effiziente! - Technik, das Wort aus der rationalen (oder besser: mental-bewußten) Bedeutung herauszulösen, um ihm im Unbewußten bzw. Unterbewußten eine umso vehementere Macht zu verleihen. Aus Erfahrung weiß ich: Es funktioniert. Nicht erst seit NLP u. ä. Die Technik ist uralt.
Zu der Sprache der Texte an sich oder besser den Affinitäten, die sie offenbart: Dahingehend stimmt natürlich schon, dass das Wort seine Bedeutung verliert: Als Wort. Es wird gegenständlich im "Blut", somit vital, lebendig.

@Hediger: Die Anmerkung hätte auch gut zu der Variationsreihe "Blut und Sprache" gepasst, die hier vor Monaten sich skizzierte. Allerdings weiß ich im Moment nicht, was Du genau mit "Herumdrücken" meinst. Bitte eine kurze Erklärung.
Markus A. Hediger - 22. Feb, 15:40

Ich war vielleicht

etwas zu polemisch im Ausdruck.
Was parallalie sagt, stimmt schon: Drückt man ein Wort aus, wird es "blutleer", sein Inhalt fliesst ab.
Im Idealfall fliesst es in eine Handlung bzw. bewirkt etwas, wird lebendig.

@Source: "herumdrücken" ist ein sehr unpoetischer und deshalb auch sehr unscharfer Begriff, ich entschuldige mich. Was ich meinte, war, einen Begriff, ein Wort in neue Zusammenhänge stellen, es in verschiedenen Kontexten zu erproben, um so herauszufinden, was alles in ihm steckt (wie viel Blut, also, um beim Bild zu bleiben).
TheSource - 22. Feb, 15:49

Vielleicht bezieht es

sozusagen sein Blut aus der Unmittelbarkeit der Wirkung.
So, wie das Wort Tod tötet. Nicht nur eine betreffende (Roman)Figur. Die Unmittelbarkeit der Bilder also. Mich würde abseits der jetzigen Arbeiten interessieren, wie weit man das treiben kann. Ob das Wort so körperlich wird, dass die Präsenz für den Leser wirklich eine unmittelbare ist.
Markus A. Hediger - 22. Feb, 15:57

Damit wären wir bei

einem anderen meiner Lieblingsthemen: der Schöpfungsgeschichte!
Dass Sprache Wirklichkeit schafft, scheint mir ausser Zweifel. Aber wie stellt man den Sprung von Sprache in das Körperliche her? Gibt es nur den mittelbaren Weg, d.h. Sprache, die über den Geist meine Handlungen determiniert, wodurch ich in die Materie eingreife?
Markus A. Hediger - 22. Feb, 16:10

Nachtrag: Zum Blut nochmals

Zur Blutfülle in meinen Texten trägt sicher auch meine Biographie bei, die mich immer wieder mit blutigen Szenen konfrontierte. Die Bilder bedrängen noch immer, und vielleicht treibt mich die Hoffnung, dass irgendwann das Wort "Blut" durch seine inflationäre Verwendung in meinen Texten verblutet und seinen Inhalt verliert. Dann könnte ich mich daran machen, es neu zu füllen.
parallalie - 22. Feb, 16:12

"dass die Präsenz für den Leser wirklich eine unmittelbare ist"
"Sprung von Sprache in das Körperliche"

nicht durch das wort allein. das wort tod allein tötet nicht. das unmittelbare, was herzustellen ist, liegt im schwingen zwischen den wörtern. eher wird der text (die kombination der wörter) zum körper, nicht das wort. schon wenn "ich" sage: "es werde licht", dann geschieht das erst, nachdem der kontext beschrieben wurde: "und die erde war wüst und leer".
TheSource - 23. Feb, 00:36

wunderschön

um Markus zu zitieren.
Und wunderschön! sagt Jana
neo-bazi - 22. Feb, 18:00

Völlig unblutig: Faszination pur.

parallalie - 22. Feb, 19:06

hinzuweisen wäre allerdings auch darauf, daß mein satz mitnichten so programmatisch ist, wie er jetzt hier aussieht: er fiel in einem messenger-gespräch zu viert. gepostet hätte ich ihn jedenfalls nicht.

TheSource - 22. Feb, 19:43

Es ist wunderbar,

dass Du ihn getippt hast in dieser Messengerkonferenz!
parallalie - 22. Feb, 20:26

ich weiß nicht, ich fühle mich unwohl dabei : dieser satz stellt eher rückfragen an mich : als an Eure texte : und ich weiß auch warum : aber das sind geschichten : die nicht hierher gehören : und schon gar nicht so auf die schnelle : vielleicht irgendwann mal in den "käfigen" bei mir
TheSource - 22. Feb, 20:33

Nein.

Was Du einfach gesagt stellst Du jetzt in Frage. Aber nur Du.
Ich meine: Als schön empfunden war es hier, wie dort. Als Nähe. Wahrheit zeigt sich eben dort. Und es ist wahr: Diese Texte bluten. Und dem ist gut so, auch, dass Du es anmerkst.
bvl - 22. Feb, 20:42

herzblut

tut gut
macht satt
uns hetzende
der stadt
neo-bazi - 22. Feb, 23:37

Leute,

was ich meinte: mich hat der Text von Frau TheSource fasziniert. Daß ich damit unter dem anschließenden Fachgeplänkel lande, ist nicht meine Schuld, das liegt an der Struktur eines Weblogs.

Texte wirken auf mich oder lassen mich kalt. Daß es Schriftsteller gibt, die für sich selbst oder für Literaturkritiker schreiben, ist mir bekannt. Wirkung besteht für mich aus Inhalt und Ausdruck, das ist natürlich ein ganz subjektives Ding. Womit wir schon wieder bei Nietzsche wären: das Vergnügen (an einer Sprache) liegt bei den Halbwissenden.

bvl - 23. Feb, 00:38

da schwingts

und oben auch, nur anders.
wir sind eingeladen. wir muessen es nur wollen
was uns dann wie geplaenkel das ist herzblut von allen die psten. oder posten.
believe me :o)
parallalie - 23. Feb, 09:41

blut, das gegen
echowellen anschwimmt
damit es nicht fließt

raubvogel im sturm
muß mit den flügeln schlagen

um still zu stehen
Reh Volution - 23. Feb, 20:33

@parallalie

es gilt dabei die Skalierungen zu überwinden
Ein Ausleben von Inhalten findet ja ständig statt, fragt sich nur was man mit der Zeitachse anstellen kann

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