Montag, 20. Februar 2006

Widmung



Für Ysaj und June


21

Statues (mp3, 4,474 KB)

Verhandlungen mit Romanfiguren II

Es sieht so aus, als fände ich sie immer an irgendeinem Gewässer. Als sei das Wasser maßgeblich für unsere Begegnungen, als wohne in ihm ein Geheimnis, das wichtig für meine Suche ist. Von den Klippen erblicke ich sie, erkenne sie am riesigen Strohhut, der den Blick auf ihren Körper abschirmt. Ganz ruhig sitzt sie dort am Strand, döst vielleicht in der späten Sonne, und ich beginne meinen Abstieg, diesmal nicht darauf bedacht, mich unbemerkt zu nähern. Hier muss ich mich nicht anschleichen, nicht verstecken; sie wird nicht ausweichen und wußte wahrscheinlich schon, dass ich auftauchen würde, bevor ich mich überhaupt auf den Weg machte.
Am Liegestuhl, auf dem sie im Schneidersitz thront, an die hochgeklappte Lehne gelehnt, greift ihre Aura mächtig. Sie hebt den Kopf, blinzelt dieses irisierende Grün und wirft mir ein gefaltetes Badetuch hin. Mit dem Kinn bedeutet sie, mich zu setzen und ich bin froh, keine Diskussionen führen zu müssen. Meine Anwesenheit ist sofort selbstverständlich und ich nehme auf dem leuchtenden Gelb des Frottées Platz, blicke wieder auf eine Wasseroberfläche, diesmal eine wohlvertraute. Vor mir ein Lichtspiel sinkender Sonne: Farben jagen einander auf den Wellen und unter ihnen öffnet sich bewegte, lebendige Dunkelheit. So wie ich Ysaj verfolge auf dem Wasser, unter uns Tiefe, dunkle, lebendige Tiefe.

"Du erkennst die Adria am Duft nicht wahr? Den leisen Unterschied, den ihr Tanz durch eigenwillige Salzspuren auf der Nasenschleimhaut hinterlässt, die unverwechselbare Süße ihres uralten Traumes, keinem anderen Meer gleich. Und doch bist Du hier".
"Jolanda, ich..." Sie hebt die Rechte und ihr stummer Mund spricht: Schweig!
"Gib mir eine Zigarette", sagt sie. "Ach nein, Du hast ja keine. Du hast sie im Wald verloren, als Du hinter Ysaj herjagtest, die Du suchst".
"Ich muss sie finden".
"Sei still! Warte..."
Sie wühlt in ihrer großen Tasche herum und gibt mir dann eine Schachtel Lucky Strike: "Und jetzt gib mir eine Zigarette, zünde sie an". Ich öffne die Schachtel und sehe sofort mein Feuerzeug. Sie lacht leise, während ich zwei Zigaretten anzünde, hievt sie die Tasche auf ihren Schoß.
"Hier ist alles drin. Alles, verstehst Du?"
Ich nicke unbestimmt, reiche ihr eine der Zigaretten und ziehe den Rauch tief in meine Lungen. "Wie konntest Du nur Deine Zigaretten verlieren? Habe ich Dir nicht gesagt, dass der Tabak den Frauen unwiderruflich zugesprochen wurde von den Göttern? Weißt Du noch warum?"
"Zum Trost", murmele ich und inhalliere erneut.
"Ja, zum Trost! Von den Pflanzen der Hellsichtigkeit gar nicht zu sprechen, mit denen Du ja nichts am Hut hast! Kein Wunder, dass Du die Zigaretten verloren hast!"
"Jolanda! Ich muss Ysaj finden! Wo ist sie?"
Ihr lautes Gelächter wird von einem kurzen Husten unterbrochen. Sie wirft die Zigarette nicht weg sondern drückt sie in einer alten Konservendose aus, die sie ebenfalls aus ihrer Tasche zieht. "Gib mir die Tasche, Jolanda".
"Warum?", fragt sie mich leise.
"Wenn alles in der Tasche ist, dann ist Ysaj auch da drin".
"Nein", lacht sie erneut. "Ysaj ist nicht in der Tasche. Und Du auch nicht".
"Augenscheinlich nicht". Ich blicke auf meine Hände.
"Seit einer Ewigkeit sitze ich hier und warte, dass Du kommst und nach der Tasche verlangst. Und jetzt willst Du sie und willst sie doch nicht".
"Ich verstehe nicht..."
"Eben das ist es ja! Du verstehst gar nichts! Hier!" Sie reicht mir die Konservendose und ich asche ab. "Wo ist Ysaj, Jolanda?"
"Nicht in der Tasche. Wo ist sie, wenn Du Deine Augen schließt?"
"Ich weiß es nicht..."
"Warum schließt Du nicht Deine Augen statt zu plappern? Gib das her!" Unwirsch nimmt sie mir die Zigarette und die Blechdose ab. "Schließ Deine Augen!"

Orange. Blau tritt in das Bild ein - von unten. Bald wird es sein Komplementär vollständig der Leuchtkraft beraubt haben. Sie werden sich gegenseitig zersetzen. Möwen. Salzgeruch. Ein wohlbekannter! Adria. Das Blau steigt an, schwillt aus den Lidern von.. ja von was? und ich sehe Ysaj in einer Träne, die aus Fels tritt. Eine heiße Sonne steigt über den Horizont, trocknet die Träne und Ysaj liegt leblos auf den Felsen an der Küste. Angst reißt mir die Augen auf.
Der Strand liegt im Dunkel unter einem schmalen, diesigen Mond. Ich springe auf und starre auf e t w a s, das die Landschaft assimiliert hat, starre auf eingefrorene Zeit. Jolandas Atem dampft in der Kälte und tritt unendlich langsam aus, vereint sich mit dem Rhythmus der gleichsam langsamen Wellen. Plötzlich hebt sich das Meer und sein vor Gischt schimmernder Kamm legt einen Körper auf die Felsen. Ich haste über den Strand aber meine Schritte sind unendlich langsam, jeder Schritt dauert Tage, ich kann die erbarmungslose Sonne auf- und untergehen sehen. Als ich den Felsen erreiche, startt Ysaj mich an und fragt: "Angst um mich oder um Deine Geschichte"?

Jolanda steht neben mir, der nun rote Sonnenuntergang schimmert auf den Felsen. "Wo ist Ysaj?" rufe ich aus.
"Hast Du sie denn gesehen?"
"Ja", ich deute auf die Stelle, an der Ysaj vom Meer ans Land getragen wurde. "Hier lag sie, ich habe sie gesehen!"
Jolanda schüttelt langsam den Kopf, berührt den Fels, fast zärtlich fahren ihre Finger die vom Wasser gegrabenen Furchen entlang. "Hier wohnt nur Sturm und Hitze", sagt sie und wendet sich ab. "Und Tränen, viele, viele Tränen".
Ihre Schulter versteift sich unter meiner Hand. "Jolanda, was ist hier geschehen? Wo ist Ysaj? Sag es mir bitte!"
"Wo soll sie schon sein?" fährt sie herum.

Wohin gehst Du? Eigentlich wollte Ysaj es nicht wissen.
Da wandte sie sich gleich einer Schlange: Dich zu suchen!
Ja: ich lag auf den steinigen Felsen an der Küste, erlegt. Dort behagte es mir grade.
Am Abend dann sog sie an ihrer Pfeife. Über das Spülgeschirr warf sie das Leben wie roten Segen auf Ysajs Haupt: Wenn du so weitermachst, werden Dich die Möwen und die Krebse fressen.
Wieder das Kinn. Ysaj, trotzig: Ja und? - Woher nur dieser Zorn? -
Da lachte Jolanda das lucide Lachen. Das erste Mal ungeschminkt.
(Warum Ysaj erschrak? Als Kind wollte sie es immer hören, nicht nur als dumpfes Echo durch Nachttüren)
Wieder zog sie an ihrer Pfeife und sog die Luft gleichermaßen aus dem Raum.
Hach, lacht sie. Du, die Du tot und erschlagen herumliegst an unseren schönen Küsten und im Verwesen so gern stinken willst, zappelst aber heftig herum wenn ich Dich an die Fische verfüttern will.
Dann beugt sie sich ganz nah: Bleib fern von meinem Strand!


"Das habe ich kürzlich geschrieben! Es sind Skizzen zum Roman! Du hast es zu Ysaj gesagt!"
"Habe ich? Zu Ysaj? Siehst Du Ysaj denn hier?"
"Woher dieser Zorn, Jolanda? Woher?"
"So einfach geht das nicht. Eine Antwort aus der Tasche zaubern!"
Karmesinrot reflektiert ihr heller Strohhut die Sonne am Horizont. Sie läuft zum Liegestuhl, bückt sich, kehrt zurück, reicht mir die Zigarettenschachtel: "Hier. Du wirst Trost brauchen". Woher nur dieser Zorn?, denke ich wieder und lehne mich an die Felsen. Sturm und Hitze. Und viele Tränen. Bleib fern von meinem Strand!
Hatte ich dies wirklich geschrieben? War es überhaupt je geschrieben worden?
Der Strand liegt leer, ein letztes Lecken des roten Lichtes. Jolanda ist fort.



kueste011


Moloko (mp3, 4,588 KB)


Join the Blue Ribbon Online Free Speech Campaign


Arbeitsnotate
Buch des Monats
Chatlogs
Chronik des laufenden Wahnsinns
Distichen
Expressionen
Ging-tse
Illuminati
Impressionen
Inspirationen
Nada
Netztrash
Notate
Poems
Poetologie
Prometheus
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren