Sonntag, 3. April 2005

Schildkrötenpochen.

Atanas aber dachte nicht so wie ich. Er fühlte, wann immer er abends ein wenig Dunkelheit atmete, dass er sich für zehn Sekunden in seinen Vater verwandelte. Und er wollte wissen, wie er sich für diese zehn Sekunden täglich nannte. Er sagte immer zu mir: "Bisher habe ich ihn nicht gebraucht. Bisher war er nicht mein Lehrer. Jetzt ist er es". Und so nahm er anstelle des Namens Svilar, unter dem er die Schule beendet hatte, den Namen Fjodor Akeksejewitsch Razins an und trägt ihn noch heute. Und erst jetzt hatte er die Kraft gesammelt, sich Vitača wieder zu nähern. Jetzt nahm er sie mit in die Welt und dort haben sie auch geheiratet. Das Verhältnis Vitačas zu Atanas hat sich mir niemals völlig erklärt. Vida, ihre Schwester, bewahrte ein paar Briefe auf, aus denen hervorgeht, dass sich Vitača, milde ausgedrückt, seltsam gegenüber ihrem zweiten Ehemann, meinem Sohn, verhielt. Das, was man die große Liebe nennt und was nach all dem zu urteilen auch ihnen widerfuhr, ist nichts, was zu gleichen Teilen unter den Beteiligten aufgeteilt wäre, vielmehr ist es so, dass der eine einseift und der andere rasiert. Wenn Sie nicht begreifen, was ich meine, werde ich Ihnen eine altbekannte Geschichte zu diesem Thema erzählen:

Ein Pfaffe beschwor sein Weib, niemals ohne ihn zu essen, anderenfalls werde sie sich in einen Wolf verwandeln. Da nun beschwor sie ihn, niemals ohne sie zu trinken, anderenfalls werde er sich in eine Ziege verwandeln. Als eine Spanne Zeit vergangen war, lugte sie in des Mannes Abwesenheit in sein stummes Buch. Beim Lesen vergaß sie sich, aß ein Blatt Kohl und verwandelte sich in einen Wolf. Als er nach Hause kam, lief der Pfaffe einem wilden Tier in die Arme. Natürlich ahnte er nicht, dass es seine Frau war. Sobald man sich erblickte, begann der Kampf, und es gelang dem Mann, den Wolf mit den Zähnen beim Ohr zu packen. Er faßte immer heftiger zu, bis Blut floß. Kaum aber hatte er ein wenig von dem Blut getrunken, verwandelte sich der Mann in eine Ziege, die der Wolf zerriß.

Das ist Gleichheit. Der Stärkere wird stets zum Schwächeren.

So geschah es auch Atanas in seiner Ehe mit Vitača. Eine Stelle aus einem Brief Vitača Miluts an Atanas mag hierzu als Beweis dienen:
"Irgendwo an einer Küste der südlichen Meere, wo die Sterne am Weitesten von ihren Bildern entfernt sind, verspeisten die Reisenden eines Schiffes eine riesige Schildkröte. Nach fünfhundert Jahren fand ihren Panzer am selben Ufer ein Seemann, der sich in ihm verbarg, die Nacht zu verbringen. Am Morgen streckte er ausgeschlafen und fröhlich seine Arme durch die Öffnungen des Panzers und ließ sich in diesem Spiel mit sich selbst ins Wasser gleiten. Der Schildkrötenpanzer klang nach einem halben Jahrtausend erneut vom Schlag eines Herzens wider und verstand wieder zu schwimmen.
So klingt dein Herz in mir wider".



[Milorad Pavić: "Landschaft in Tee gemalt"]


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Ouranous II

Das ist der Preis des Himmels, des Unvergänglichen, dass er sich nicht um Existentielles schert. Das ist Ouranous, der Grausame, welcher der Unendlichkeit das Irdische opfert. Prometheus, der Titan, ist sein Aga.


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