Freitag, 25. März 2005

Eigenart


raoulprof03


Und risse aus der Brust sich
oder hernieder das Vergangene
von den Sockeln im Tanze
aus Hüften zermalt, dass es liege
und schweige jetzt


(2005)

[Foto by: R. Schneider/Dortmund]

Aramäisch oder: What the fuck is going on?!

Tagebuchauszug vom 25.03.2004 era vulgari:

Ich habe einen Kobold. Oder sagen wir es so: Ein Kobold wohnt bei mir. Lachen Sie nicht - es ist keine phantastische Erfindung, nein. Es ist wahr.
Dieser Kobold nervt. Früher nervte er nicht. Er machte seinen Job und ich stellte ihm Milch hin. Doch dies hat sich geändert. Vielleicht ist der Kobold verärgert, gar erbost - ich weiß es nicht. Jedenfalls ist er schon länger mein Gast und seit er wieder eingetroffen ist, eskaliert es.
Sie verstehen nicht? Nun, ich auch nicht.

Alles begann, als ich noch in der Roonstrasse wohnte. Damals studierte ich und schrieb meine ersten zaghaften Versuche zu Tee mit Choronzon, Abhandlungen über Liebesgöttinen usw. Sie müssen wissen: Mein Schreibtisch ist immer sehr aufgeräumt. Es können überall Papiere herumliegen, ungeöffnete Post, Rechnungen, Skizzen: Auf meinem Schreibtisch herrscht Ordnung. Eines Tages, dies war Anfang der 90er, begannen Manuskripte von ihm zu verschwinden. Zuerst dachte ich, ich hätte sie verlegt, in Gedanken in ein anderes Zimmer getragen, was auch immer. Die Überlegung, als Endzwanzigerin schrullig zu werden, belustigte sogar zuerst - aber war vollkommen falsch.
Nachdem diverse Manuskripte auf ominöse Weise von einem vollkommen aufgeräumten Schreibtisch verschwanden, teilweise an den unmöglichsten Stellen (Wäschekorb, UNTER der Katzentoilette usw.) auftauchten oder auch nicht, kam mir das Ganze - fälschlicherweise - spanisch vor. Ich rief also eine "Ordensschwester" in England an und schilderte ihr das Phänomen. Sie sagte prompt: "Du hast einen Kobold". Aha. Einen Kobold. Sehr witzig. "Er scheint das Lesen zu mögen also ist das eine ältere Wesenheit. Stell ihm Milch hin und ab und an einen Schluck Wein". Milch. Wein. Also gut.

In den kommenden Wochen stellte ich also allmorgendlich ein Schälchen frische Milch ins Wohnzimmer (mein Glück: die Katzen mögen sie nicht) und am Wochenende ein kleines Gläschen Wein und tatsächlich begannen die Manuskripte und - nunmehr auch - diverse unauffindbare Gremoires wieder aufzutauchen, zwar nicht dort, wo sie verschwunden waren aber immerhin in der Nähe des Schreibtisches. Dringend benötigte Schriftstücke emanierten aus dem Nichts bei Androhung von saturnalen Bannungen - so weit, so gut.
Also ich meine, es ist ja nicht schlimm einen lesesüchtigen Kobold im Hause zu haben, es gibt schlimmere Kobolde, junge, die nur Schabernack treiben wie bspw. die Zuckerdose mit Salz füllen usw.; man sagt außerdem, sie brächten Geld, wenn sie sich wohl fühlten. Und der Kobold fühlte sich wohl. So wohl, dass ich bald eine größere Wohnung beziehen konnte. Er las meine umfangreiche Gremoire-Bibliothek und Geld floss ins Haus.
Beim Umzug in einen anderen Stadteil kopierte ich zwei Seiten des zuletzt zurückgegebenen Gremoires, schnitt sie in Sätze und lief den Weg von der alten zur neuen Wohnung zu Fuß, dabei die Schnipsel nach und nach auf dem Geheweg verteilend. So zog der Kobold mit um (Man weiß nie - sicher ist sicher. Die 25 Minuten Fußweg waren es mir jedenfalls wert).

(Um ehrlich zu sein, glaubte ich da ja immer noch nicht an ihn, doch der zuvor angetretene Beweis verblüffte sogar mich. Anfänglich machte ich die Probe, zwei Freunde einbeziehend, schlicht um mich zu vergewissern, ob ich nicht vollkommen bescheuert bin. Wir besprachen den Ablauf des Tests außerhalb meiner Wohnung, dann kopierte ich mehrere Seiten einer alten ägyptischen Stelenabhandlung an der Universität; wir betraten die Wohnung, ich legte unter besagten Zeugen die Kopien auf den sonst - bis auf eine Schreibmaschine und eine Stiftablage - vollkommen leeren Schreibtisch, wir verschwanden gemeinsam ins Nebenzimmer, tranken Wein, redeten mehrere Stunden, niemand von uns verließ den Raum. Nach drei Stunden, als wir gemeinsam nachsahen, waren die Kopien verschwunden).

Die folgenden Jahre waren prima. Der Kobold wars zufrieden, immer neuen Kram zu lesen, Geld floss reichlich ins Haus, das täglich neue Milchschüsselchen war schon Usus - auch für manche Haushaltshilfe. Meinen damaligen Lebenspartner, der eine kurze Weile bei mir wohnte, mochte er zwar nicht (vielleicht, weil es bei dem nur AutoMotorSport und Spiegel zu lesen gab) und spielte ihm gelegentlich Streiche, aber im Großen und Ganzen waren alle wohlauf.
Ende 1999 verließ ich plötzlich - und ungewollt - Dortmund. Meine Wohnungsauflösung einige Monate später wurde von meiner Mutter vorgenommen und mein Hab und Gut bei ihr verstaut, bis ich wieder im Lande sei. Niemand dachte an den Kobold, ich auch nicht. Ich sagte, Sie sollen bitte nicht lachen. Die Sache wird zur Katastrophe.

2001 war ich wieder da, bezog eine weitere Wohnung und ging, wie jeder Mensch, meiner Arbeit, meinen Studien und meinen Hobbies nach. Nur der vorherige Erfolg, der stellte sich nicht ein. Die Finanzen gerieten mehr und mehr zu einem Desaster. Was ich hinnahm - nicht alles kann glatt gehen.
Doch vor einigen Wochen geschah das Merkwürdige: Erneut begannen Manuskripte und Bücher zu verschwinden. Morgens fand ich zerbrochene Tassen im Schrank - ganz zu Schweigen davon, dass die Katze, die derzeit meinen Weg begleitet, noch n i e etwas zerbrochen hat.
Drei Wochen lang suchte ich Crowleys "Little Essays toward Truth", bis sie zwischen den Schallplatten wieder auftauchten. Der Kobold hatte mich endlich gefunden und war augenscheinlich nicht sehr erfreut über meine fünfzehnmonatige Abwesenheit.

Ich fasse mich kurz: Weder Milch noch Wein helfen. Der Kobold macht seinen Job nicht sondern verschlimmert nur die Situation. Ihn mit einer saturnalen Bannung hinauswerfen will ich auch nicht, schliesslich hatte ich ihn einfach im Stich gelassen. Dennoch: Er n e r v t.

Mein Aramäisch-Wörterbuch ist seit zwei Wochen verschwunden und ich brauche es dringend! Natürlich weiß ich mittlerweile, dass der Hausgast Aramäisch spricht. Das Wörterbuch fehlt darob aber nicht minder! Nebst zwei meiner besten Kabbalah-Ezyklopädien, Notzien zu TmC, vier handnotierten Gedichten und Evolas Gesamtwerk (das ich seit über e i n e m Jahr nicht aus dem Regal nahm und nun klafft dort eine einstaubende Lücke!). Heute tauchte das Liber 963 aus dem Nichts an meinem Bett auf - ich erblickte es beim Aufwachen.

Heufieber

Svilar fühlte sich plötzlich gefaßter. Das Kind bekommt, wenn es die Schlange verzehrt, durchsichtige Lider und sieht in der Nacht. Jetzt sah auch er in der Nacht. Und er betrachtete, was er sah.
Unter den Donnerschlägen des Gewitters wurden die Äpfel wurmstichig, vor dem Regen lockte sich den Hunden das Haar, mit Wolken überzog sich der Himmel, der Ibar toste schwarz vom Pflügen, und man vermochte nicht zu erkennen, wohin er floss. Feuchte lag in der Luft und Svilar schöpfte Atem. Das Heufieber gab nach, als lasse es ab von der Belagerung, als habe seine Anwesenheit plötzlich den Sinn verloren. Aus den Bäckereien verbreitete sich der Duft nach Brot, gebacken auf Kohlblättern. Und Svilar nahm zum ersten Mal nach langen Jahren diesen Duft wahr, so wie er fühlte, dass ihn seine alte Anverwandte, die Krankheit, verließ. Das Heufieber verwschwand für immer aus seinem Leben. Es gab nichts mehr, wovor es ihn schützen konnte. Und er war ihm dankbar beim Abschied, dass es ihn wenigstens bis jetzt, all diese langen Jahre seines Lebens, vor der Wahrheit verschont hatte wie vor dem Finger im Auge. Nasenflügel und Ohren öffneten sich wie ein Paar zweiter Augen, und er atmete endlich den Duft des eigenen Körpers ein, der irgendwoher über das Meer gekommen war, einen unbekannten, fast fremden Duft, den Duft seines "griechischen" Schweißes. Er begann die Dinge so klar zu sehen, als sehe er sie durch die Tränen auf seinen Wangen und nicht mit den Augen.


[Aus "Landschaft in Tee gemalt" - Milorad Pavic]

Näheres zu Pavic >>> hier

pavic.landschaftintee


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