txt 22 (Fragment)

Es war das pulsierende Leben, ihre zu graziler Länge gesprossenen Beine, der schmale, zerbrechliche Umfang ihrer Mitte und die flüchtigen Bewegungen eines scheuen Wildes, die Ysaj begrenztes Asyl gaben auf den Ebenen. Ihre Duldung war von Anbeginn auf Vergänglichkeit gebaut; das Geschenk Aphrodites, die sie an ihre verräterische Brust zog und der Ysaj, wie Paris, haltlos verfiel: Der Pakt mit dem Frühling wurde in Ysajs fünfzehntem Lebensjahr geschlossen.

Ihre Pubertät hatte früh eingesetzt. Als sie neun Jahre alt war, brachte der Körper den Schrecken der plötzlichen Blutung. In Todesangst starrte Ysaj auf das Resultat der inneren Wunde, das Blut des verborgenen Schmerzes, in dem der Zorn pochte, schreiendes Rot, das tobend ins Licht der Welt trat, in die Sichtbarkeit des fremden Lebens, das sich nun auch in ihr eingenistet hatte. Unerwartet für alle, nicht nur für Ysaj. Ihre Mutter, eine gebildete Frau, nahm an, Ysaj habe alles verstanden, was es zu verstehen gab über dieses Rot. Aber Ysaj verstand nichts. Ysaj war neun. Ein Jahr zuvor hatte Mutter sie aufgeklärt über die Frauensache, als Ysaj wissen wollte, woher die Babys kommen. Nüchtern und lächelnd. Eine Sache, die jeden Monat zu den Frauen kommt. Ysaj dachte damals: Das muss schrecklich sein. Aber die Jahre, die zwischen ihr und der Frauensache lagen, erschienen endlos. Und dann hatte ihr Körper sie verraten, sie vollkommen allein gelassen in ihren kindlichen Puppenstuben und Pastellbüchern. Der Körper hatte seinen Kampf gegen die Ebenenbewohner begonnen, denn für ihn gab es nur ein Entrinnen aus der Herde: Entwachsen. Das waren die Regeln: Entwachsen und dann fortgehen. In die Wälder, in die Dschungel, in die Freiheit.

Ysaj wusste davon nichts. Ihre Kinderseele war unversehens gefangen in einem aufblühenden Frauenkörper, dessen vorspringender, wütender Kampf Blicke auf sich zog – unverständliche, klebrige, bohrende Blicke. Männer sahen sie anders an und Ysaj fürchtete sich davor. Auf einmal war die Welt voll alter Männer; ihre Blicke, ihre Pfiffe auf der Strasse, ihre anzüglichen Bemerkungen durchbrachen die dünne Haut und trieben das Kind in Wunderwelten aus Buchstaben. Ysaj las, was ihr in die Finger kam. Sie verschlang Bibliotheken, wurde altklug, blieb Klassenbeste und freute sich nicht daran. Alles trennte sie von den Anderen, auch die Bücher. Und die Frauensache: diese Einsamkeit inmitten von Blicken. Bevor Aphrodite, die Sonnengoldene, erschien waren ihre Früchte Qual und Verwirrung. Die launische Göttin fand Gefallen an Ysaj, fuhr in sie und alles, die Ebenen, die Wälder, die Wüste, die See - einfach alles wurde zu einem märchenhaften Garten. Aphrodite unterzeichnete den Pakt mit dem Frühling, den Eid an den Sommer, den sie nie zu halten gedachte, und Ysaj verriet den Winter, ihren einzigen Freund, kehrte ihm den Rücken und ließ ihn fallen. Athene, inmitten ihrer Rüstungen und Bücher, wurde blass vor Zorn. Ysay sass in der Falle.


Rubrik: Ulmenjahr
Markus A. Hediger - 18. Mär, 10:25

Und die Männersache:

diese Einsamkeit des hungrigen Blickes.

[Die männliche Pubertät: keine schaut ihn an, er aber sie alle.]

TheSource - 18. Mär, 10:36

Beim Doppel-X

Chromosom machen sie wohl doch Unterschiede: Mädchen schauen nicht jeden an. [Ich überlege grade, ob das: Der eigenen Altersgruppe entrissen Sein zu wenig herausgearbeitet wurde im Fragment. Denn für neunjährige Jungs sind gleichaltrige Mädchen doofe Ziegen - gleichaltrige mensturierende Mädchen aber Monstren].
Auch: 13-jährige Jungs schauen anders als 35-jährige Männer. Das Bedrohliche ist Letzteres: Sie wissen etwas, was das Kind nicht weiß.

Die Einsamkeit des hungrigen Blickes - wie geht man(n)/junge damit um?
Exkurs - 18. Mär, 10:50

Es ist eine der gewaltigsten Erfahrungen für ein Mädchen., wahrlich lebensverändernd. Es sind nicht nur die anderen Blicke selbst der Gleichaltrigen, auch das Entrissen sein der eigenen Altersgruppe, plötzlich diese Einsamkeit, die über sie hereinbricht und zusätzlich die als bedrohlich empfundenen Blicke der erwachsenen Männer - massive Überforderung einer Neunjährigen. Wer fängt sie auf? Wer führt sie durch dieses Gefühlschaos? Da bleibt nur die Flucht, in diesem Fall in die Bücherwelt.
Markus A. Hediger - 18. Mär, 11:31

Zur Einsamkeit

Des hungrigen Blickes: Hierauf die männliche Antwort: Mann wartet, bis er 35 ist.
(Tönt in diesem Kontext sarkastisch. Gemeint ist hier aber mehr die Hilflosigkeit, der ein Junge während der Pubertät ausgeliefert ist. Es bleibt ihm keine Alternative als zu warten, bis er erwachsen wird. D.h.: Bis er das Glück hat, angeschaut zu werden.)

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