Ihr Schatten streift meinen Schlaf und ich schrecke aus einem schweren Traum, dessen Inhalt mir sofort wieder entfällt. Dunkel und glatt wirken ihre Züge im Flackern der einzigen Kerze. Sie hält den Zettel in der Linken, auf den ich am Abend mit müden Fingern schrieb: "Ich schlafe heute Nacht auf dem Sofa und lasse eine Kerze an für Dich", bevor ich mein Nachtlager im Wohnzimmer aufschlug. Nein, sie ist keine Traumgestalt, sie ist so real wie ich oder so irreal wie ich - es macht keinen Unterschied, schon lange nicht mehr. Wer nicht intensiv schreibt, kann das nicht verstehen. Diese Plastizität der Figuren, ihr Leben, ihr flüsternder Atem, das morgendliche, geteilte Brot, ihre Anwesenheit bei jedem Schritt. Sie treten aus der Skizze für die nächste Szene und stehen plötzlich am Schreibtisch. Lassen nicht zur Ruhe kommen. Wollen Antworten. Wollen Fragen. Verlangen nach Kaffee, Wein, Zigaretten. Oder sitzen mitten in der Nacht neben uns, die wir ihnen ein Licht brennen ließen, auf dem Sofa.
"Ich habe gehört, wie er sagte, in Euren Texten sei so viel Blut*. Ob er wohl die ganze Bedeutung dieser Worte versteht? Du hast ihm nur die halbe Erklärung gegeben, so wie Du alles nur halb tust und somit am Ende nichts tust... Chianti?"
Beklommen nicke ich und sie nimmt das halbvolle Glas vom Tisch, hält es gegen das Licht. "Die Italiener verstehen etwas vom Wein. Und wir ja auch". Trocken lacht sie auf: "Roter Wein, rote Teppiche, rote Kleidung. In Deiner nächsten Wohnung wird sicher eine Wand rot gestrichen sein".
"Du weißt genau, dass ich lieber Weißen trinke".
"Aber Du trinkst seit Monaten Roten".
"Ja".
"Weil Winter ist".
"Ja".
Tief taucht ihre Nase in das durch Schwenken neu belebte Aroma. Lange und mit geschlossenen Augen zieht sie Molekül für Molekül ein, bevor sie einen Schluck trinkt. "Zu jung", dann ihr Urteil. "Wir waren mal Besseres gewohnt. Bevor wir auf den Hund kamen".
"Wenn Du gekommen bist, um Beleidigungen loszuwerden, spar Dir die Mühe. Seit Wochen renne ich Dir hinterher und bin einfach zu müde für dieses Geplänkel".
"In Ordnung". So abrupt stellt sie das Glas ab, dass die Obertöne noch lange nachhallen. Wir lauschen beide, bis sie verklungen sind. "Wie Du willst. Kommen wir zur Sache: Ich sterbe".
"Das ist unmöglich! Jeder Buchstabe, den ich schreibe, gibt Dir neues, ja: unsterbliches Leben".
"Nein".
"Nein? Schau Dich doch um, Ysaj! Skizzen zum Roman liegen herum, ganze Passagen sind gespeichtert auf CD, auf der Festplatte. Wie kannst Du da sterben?"
"Jolanda hat recht, Du begreifst es einfach nicht". Sie spricht so leise, dass ich kaum höre, was sie sagt, meine Nackenhaare aber begreifen und stellen sich auf: Die Ruhe vor dem Sturm, das fast sanfte Raunen vor dem Orkan.
"Ja, wir sind uns zu ähnlich, nicht wahr?" fragt sie schneidend. "Dieses immer ruhiger und stiller Werden bevor das Rot alles um uns herum in Trümmer legt".
"Das war einmal".
"Du willst sagen, das war bevor Du es mit schwarzer Tinte auf weißes Papier gebracht hast, gut versteckt in Deinen Buchstaben. Bevor es meins wurde".
Ich seufze. "Vielleicht ist das so. Vielleicht verstehe ich auch einfach nicht. Vielleicht habe ich Dich nur erschaffen, damit Du es mir sagst, darauf willst Du doch hinaus, oder?"
"Nein, wir sind mehr als nur das".
"Wir?"
"Jolanda hat Dir etwas gesagt beim Abwasch, hast Du das vergessen?"
"Sie hat es zu Dir gesagt!"
Ihr Lachen ist bitter: "Ist das nicht das Gleiche? Denkst Du, nur weil Du es geschrieben hast, sprach sie zu mir?"
"Gut, nehmen wir an, sie sprach zu mir. Nehmen wir an, sie wollte mir etwas damit sagen. Das beantwortet aber nicht meine Frage".
"Welche Frage?"
"Die Frage, nach der Du seit Wochen verlangst um sie mir dann nicht zu beantworten, Ysaj! Woher dieser Zorn?"
Schweigen. So dicht, dass sich die Stille zäh gen Boden tropft. In diesen endlos scheinenden Minuten höre ich die Katzen, wie sie durch den Garten schleichen und den Schlaf des Spechtes. Wir haben keinen Atem. Er ist im Zyklon des Sturmes gefangen, im noch nicht gefallenen Regen, in den Tiefen der Meere. Wie kann das sein? Wir haben keinen Herzschlag und sind doch schon alt, wissen um die beißende Kälte auf der sonnenabgewandten Seite des Uranus und die dunklen Nächte bei einem einzigen, winzigen Licht.
"Wer bin ich?" fragt sie plötzlich.
"Du bist Ysaj".
"Wer bin ich noch?" fragt sie, schenkt sich nach.
"Das habe ich noch nicht geschrieben".
"Weil Du es nicht kannst!"
"Das stimmt doch gar nicht, Ysaj".
"Ysaj!Ysaj! Immer Ysaj! Hast Du keinen anderen Namen für mich mit deinen lieblosen Tintenschmierereien? Ich sterbe!"
"Lieblos? Was in aller Welt redest Du denn da?
Lieblos?"
"Du kannst es nicht schreiben weil Du nie geschrieben worden bist! Ist Dir das denn nicht klar?"
Ich nehme die Flasche vom Tisch und einen kräftigen Zug. Der Nacken brennt, während der Tod kalt und salzig aus ihm austritt.
"Ich wurde nicht geschrieben? Von wem? Wer schreibt das alles hier, Ysaj?"
Ihre Erregung wirft unsichtbare, spitze Funken.
"Du hast die Buchstaben nicht! Du hattest sie nie! Du kannst Liebe schreiben aber sie wurde nicht für Dich geschrieben. Darum sterbe ich, weil Du nur diese vier Buchstaben für mich hast".
"Vier Buchstaben? Was soll das jetzt bedeuten? Was willst Du, dass ich schreibe? Sag es und ich werde es schreiben!"
"YSAJ. Vier Buchstaben! Manchmal findest Du auch die üblichen drei: SIE. Ich will mehr als das, ich kann so nicht existieren, verstehst Du das nicht?"
Kopfschüttelnd stelle ich die Flasche zurück auf den Tisch. "Nein", hilflos hebe ich die Hände.
"Dann sag YSAJ mit anderen Buchstaben, sag es zärtlich! Schreib es hin".
"Ich kann nicht, Ysaj". Der Tod nun auch in den Handflächen, mein Tränen sind mir fremd, als liefen sie ein anderes Gesicht hinab. Und tatsächlich: Sie weint.
Wir schweigen bis zum Morgengrauen, bis der Specht seine Augen öffnet und die Meisen auf der Terrasse tippeln. Dann, endlich, greife ich zum Füller.
Ich habe Ysaj nie gesagt, dass ihr Name eine Kosung an sich ist, die rückwärtige Buchstabierung eines Kosenamens, denn Ysaj bewegt sich rückwärts durch meine Zeit. Sie aber wollte einen Kosenamen, den sie längst innehatte, Buchstaben, die ich ihr gab, damit sie nicht einsam sei unter den sterbenden Ulmen, einen Platz fände in sich selbst, an dem sie nisten und ruhen kann. Ins Leben treten. Und während ich dies schreibe, erinnert mich Ysaj daran, dass ich nie lange bei Menschen blieb, die mir keine Kosenamen gaben; nie vertraute ich dem Leben genug, die Buchstaben einzufordern und darum verließ ich sie oder sorgte dafür, dass sie mich verlassen.
Es ist Ysaj, die diese Worte schreibt in einer möglichen Zukunft. Es ist Jolanda, die diese Worte schreibt in einer sich ständig verändernden Vergangenheit. Meine Buchstaben sind ungeboren wie ich, sie ruhen im Auge des Sturmes, im noch nicht gefallenen Regen, in den Tiefen der Meere, einem Dasein ohne Atem.
[*parallalie über meine und Markus A. Hedigers Texte]