Montag, 12. Dezember 2005

Lange, graue Wege.

Ihre erste Begegnung mit dem alten Blut hatte Ysaj schon in Kindesjahren und diese Begegnung war ein Ahnen nur, ein Schatten, der nie verblassen sollte und sich über ihr Dasein legte wie feiner Nebel. Ohne es zu wissen, trieb ihr Leben unausweichlich auf die Entfaltung dieses Blutes hin; sie war unglücklich, wenn die Umstände diese innere Programmierung unterdrückten und das Schicksal fand immer einen Weg, sie auf die Bahn zu bringen. Eine Bahn, die Ysaj Staunen abrang, Unverständnis, Wut - und sehr viel später erst Freude.
Der Himmel sandte ihr eine Botschaft, als Ysaj 19 war.
Erst nach Jahren sollte Ysaj die Parabel darin erkennen, fast eine Anleitung für ihr späteres Leben, die sie für lange Zeit nicht einfach vergaß, aber nicht lesen, nicht "übersetzen" konnte. Es ist nicht die Art des Himmels, sich zu wiederholen. Er spricht nur einmal und dann wartet er, bis das Gesagte verstanden wurde, dauerte dies auch Leben auf Leben und noch ein Leben. Dann spricht er wieder.

Nach dem Abitur hatte Ysaj, wie Manche ihrer Generation, einige Zeit in Asien verbracht. Man trekkte. So nannte sich das Wandern und Herumlaufen auf dem großen Kontinent, das Eintauchen und zeitweilige Einswerden mit fremden Gerüchen, Sitten, Eßgewohnheiten, Kulturen, Gewürzen. Ab und an kaufte man von dieser Exotik, trug es zur Post und schickte es an die Heimatadresse, wo es von Freunden bis zur Rückkehr gehortet wurde. Anderes kaufte man, weil es sich auf dem Weg als nützlich erwies und so schleppte Ysaj nach einigen Monaten ein nicht unbeträchtliches Gepäck mit sich herum, das sie nicht gedachte, im Himalaya alleine zu tragen. Also kaufte Ysaj einen Esel, dies war in Nepal, ein jämmerliches, mageres Tier, das sie drei Wochen aufpeppelte, da sie befürchtete, er könnte sonst nicht bis Darjeeling durchhalten. Sie bürstete ihn und ließ ihn weiden, wofür sie einen der ansässigen Bauern bezahlte. Kaufte Getreide und fütterte dies zu, stellte ihn warm unter. Der Esel, solch gute Behandlung nicht gewöhnt, war glücklich und wich nicht von ihrer Seite, sobald sie auftauchte.

Als sie den Esel am Abreisetag belud, erschien er ihr immer noch mager, aber kräftig genug für den größten Teil des Gepäcks. Den Rest schulterte sie und war froh über die Leichtigkeit des Rucksacks, der zuvor beträchtlich mehr wog. Ein früher Frühling war ins Land gezogen mit den frischen und morgens noch kalten Winden der Gebirgswelt und Ysaj hatte diesen Wink des Himmels, wie es ihr schien, begrüsst. Sie hatte Zeit aufzuholen, Bekannte warteten in Darjeeling und sie war ohnehin spät dran, hatte sich zu lange in Nepal aufgehalten und jetzt drängte die Zeit. Mit dem Esel würde sie zudem schnell vorankommen, was er auf dem Weg nicht an kräftigem Futter fände, band sie ihm auf den Rücken. Fünf bis sechs Tage, das war zu schaffen. Sie verabschiedete sich von ihrer Gastfamilie mit kleinen Geschenken, bekam Amulette und bunte Tücher und zog nach einem letzten gemeinsamen Essen los.

Das Wetter war wunderbar und die ersten Tage kamen sie gut voran. In den kalten Nächten erwies sich der Esel als so klug, sich für einige Stunden mit ihr ans Feuer zu legen, was zusätzlich wärmte. Tagsüber trieb sie ihn nicht allzusehr zur Eile an, die aufblühende Gebirgswelt war so schön, dass sie hier und dort stehenblieb um die grandiosen Panoramen zu bewundern oder einfach nur eine frisch erblühte Blume zu betrachten, deren Namen sie nicht kannte. Am zweiten Tag hatten sie eine Gruppe Inder getroffen, die Räucherwerk und Tee nach Katmandu transportierten, die Rücken ihrer Lasttiere waren so durchgebogen, dass es Ysaj einen Stich gab. Aber sie sagte nichts, ließ sie sogar lachen über den Rucksack auf ihrem Rücken, trank Tee mit ihnen und holte Auskünfte über den Weg ein. Der Paß sei frei seit über einer Woche und man käme schnell voran erfuhr sie bei der zweiten Tasse Caj. Auch gäbe es einen neuen Unterstand, in dem sich gut übernachten ließe auf dem Pass, Lee - meistens jedenfalls, die Winde kamen ja hier sowieso wie sie wollten. Mit etwas Glück könnten sie in einer Woche die nächsten Waren befördern. Als Ysaj sich später auf den Weg machte, winkten sie ihr nach, bald darauf nahm eine Felswand ihr den Blick und sie hörte nur noch ihre Tshi-Tsha-Rufe, mit denen sie die Tiere antrieben.
Am Abend holte sie die gefütterte Kleidung aus dem Gepäck, gab dem Esel Getreide und redete ihm gut zu. "Morgen kommt der schwerste Abschnitt und vielleicht auch noch übermorgen, wenn wir trödeln. Aber dafür sind wir zwei dann so hoch über dem Meeresspiegel, wie wir es nie waren". Der Esel blickte sie kurz an und fraß dann weiter. "Naja, ich jedenfalls nicht", lachte sie. "Wer weiß, wo Du schon überall warst". Kraulte ihn hinter dem Ohr und schlief kurz darauf ein.
Der nächste Morgen brach klar und sonnig an, auch wenn sie von der Sonne nicht viel hatten, da einer der großen Berge seinen Schatten warf. Es gab keinen Frühnebel, was sie als gutes Zeichen wertete, vielleicht waren sie aber auch einfach nur zu hoch. Ysaj trank ihren Tee und studierte die Karte. Wenn sie sich etwas beeilte, schaffte sie es am Abend bis auf den Pass und konnte den Abstieg gleich morgen beginnen, also fiel das Frühstück kurz aus und sie trieb den Esel an.
Aber am Scheideweg zum Pass fiel dem Himmel dann ein, zu ihr zu sprechen. Der Esel war vorgelaufen und bog links auf den Weg, der ins Tal hinabstieg, so dass sie rennen musste, ihn einzuholen. Sie packte die provisorischen Seilzügel und bekam den Esel nicht vom Fleck. Das sture Tier weigerte sich, den rechten Weg zu nehmen, sondern wollte auf den linken, der weitaus länger war und sie noch weitere neun Tage bis Darjeeling kosten würde. Über den Pass waren es drei. Sie zog und zerrte, der Esel schrie leise. Dann sprach sie auf ihn ein, kraulte ihn, versuchte, ihn mit seinem Kraftfutter zu locken. Nichts. Er rührte sich nicht vom Fleck, bockte wider seine sonstige Art und war halt stur wie ein Esel. Ysaj, wütend und von der Anstrengung, einen festgewachsenen Esel bewegen zu wollen, erschöpft, ließ sich auf einen großen Stein nieder und rauchte eine Nelkenzigarette. Dabei schimpfte sie auf den Esel ein. Du dummes Tier! So ein langer Weg. Sie warten auf mich drüben. In einem fort.

Aber es war entschieden. Ysaj, nicht fähig, das Tier zu schlagen und es auf den Pass zu prügeln, nahm den Weg durchs Tal. Streckte den Proviant und zog das Tempo an. Der Esel trottete brav mit, siegessicher. Er hatte den Zweikampf gewonnen und das wurmte sie. Als sie am vorletzten Tag an die Stelle kamen, an der die zwei Wege wieder zusammenführten, meinte sie, in dem I-A des Esels einen Trimphschrei zu hören. Ja, er hatte gut lachen. Für ihn hatte sie genug Futter mit.

Als sie am nächsten Mittag in Darjeeling ankamen, lief ihr eine aufgebrachte Schar Dorfbewohner über etwa einen Kilometer entgegen. In dem heillosen Durcheinander an Zurufen erkannte sie einige englische Worte und wandte sich dem aufgeregt gestikulierenden Mann zu. Ob sie vom Pass käme. Nein, sie wäre durch das Tal gegangen. Der Mann übersetzte. Wieder ein aufgeregtes Durcheinanderrufen. Sie war müde, hungrig und erschöpft und wollte nichs weiter als eine warme Mahlzeit und ihre Ruhe. Doch die Leute ließen sie nicht durch, löcherten sie mit Fragen, ob und wen sie getroffen hätte. Sie berichtete von der Gruppe Inder. Wann? Vor etwa zehn Tagen, antwortete sie. Der Tumult wurde noch lauter, Hände streckten sich ihr entgegen, eine Frau brach weinend zusammen und wurde von anderen Frauen auf die Füße gezogen. Andere Leute begannen ebenfalls, zu lamentieren, während wieder andere auf sie einriefen. Der Inder schrie auf Englisch, damit sie ihn überhaupt hören konnte. Ein Blizzard. Vor neun Tagen. Oben auf dem Pass. Gefährlich grad im Frühling. Seitdem immer wieder Stürme dort oben. Mindestens sieben Leute erfroren. Einer nur konnte sich retten und kam vor Tagen schon. Der Pass nicht begehbar. Sie könnten niemanden hochschicken, um nachzusehen. Blizzard. Erfroren. Blizzard.

Der Himmel hatte gesprochen. Nicht jetzt, aber es durchfuhr sie auf indischem Boden wie ein Blitz und erst im Donner öffnen sich die Ohren. Einige Minuten stand sie, stand einfach nur und starrte. Dann, inmitten des Pulks, setzte Ysaj sich auf ihren Rucksack. Nahm die weiche Nase des Esels zwischen ihre Hände. Und küsste sie.


dhaulagiri_ta karavane


Ulmenjahr


Esel


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