Dienstag, 6. Dezember 2005

Äpfel

"Erzähl mir von Jolanda".

"Jolanda....". Maria rührte in ihrer Teetasse, es war altes Porzellan und eine gute Qualität, trotzdem waren die ehemals leuchtenden Blumen verblichen. Die Frauen sagten, das wäre in der Zeit passiert, als es kein Spülmittel gab und sie das Geschirr mit Waschpulver abwuschen. Später gab es dann kein Waschpulver und sie wuschen die Wäsche mit Kernseife. Das war in den frühen Achzigern, als Kaffee und Zigaretten eine seltsame Währung wurden, als es einen grauen Markt gab und ständig jemand nach Italien, Österreich oder Deutschland fuhr und mit einen Kofferraum voll Waschpulver oder Speiseöl zurückkam oder anderen Dingen, an denen es grade mangelte.

"Jolanda war immer anders", seufzte Maria. "Das sah man schon an den Augen. Sie hatte als Einzige von uns allen grüne Augen. Wir Anderen hatten die blauen Augen der Eltern oder braune, die von unserer Großmutter. Du weißt ja, braun ist dominant auch in späteren Generationen". Sie reichte Ysaj den Teller mit Gebäck und Ysaj nahm ein Stück Orahnjaca, der Kuchen war noch lauwarm. Maria goß Tee nach, und immer, wenn es ruhig war in diesen Räumen, rückte die Zeit an einen heran wie ein Raubtier auf der Pirsch. Das lag daran, dass es nie wirklich still war. Maria besaß eine Uhrensammlung; niemand wußte, wie viele Uhren es genau waren, die überall herumstanden oder an den Wänden hingen. Große, aufziehbare Uhrwerke, Standuhren, kleine, batteriebetriebene Wecker, aufziehbare Wecker, Uhren mit Digitalanzeige, kleine Standuhren, Uhren aus England, Frankreich, Deutschland, der Schweiz; russische Uhren und ungarische, bulgarische Uhren, Uhren aus der Heimat, Uhren aus Griechenland, Taschenuhren aus England und den USA, niemand konnte es aufzählen. Uhren aus so vielen Ländern und Uhren aus jeder Zeit. Sie hatte eine Kukucksuhr, die war so alt, dass sie noch ein Holzuhrwerk hatte. Marias ganzer Stolz. Nur Armbanduhren mochte sie nicht. Nie sah man sie eine Uhr tragen.

Wenn Maria sagte, es sei still, meinte sie, dass niemand sprach. Denn in allen Räumen tickte und tackte es durcheinander. Es gab keinen Einklang im Geräusch der Uhren. Manche Uhren meldeten lautstark nur die volle Stunde, andere wiederum meldeten die Viertelstunden: Ein Schlag für eine Viertelstunde, zwei für halb, drei für eine Dreiviertelstunde, vier für eine volle - und dann wechselten sie die Tonlage und schlugen die Anzahl der Stunden. Zwei Uhren spielten dazu noch große Vorbilder nach: Big Ben und die Kathedrale von Zagreb, so dass die vollen Stunden zu einem schrägen Konzert wurden, das durch die Räume hallte. Maria konnte es nicht leiden, wenn die Uhren nicht gleichzeitig die Stunden schlugen, auch wenn es nichts ausgemacht hätte, denn die Melodien begannen ohnehin bei jeder Uhr anders. Jeden Tag kontrollierte sie die Uhren, zog sie auf, stellte sie nach der neuen Atomuhr. "Man glaubt es nicht", sagte sie immer, "die alten Uhren gehen viel genauer als der spätere mechanische Kram, wenn man sie zu pflegen weiß". Dabei blickte sie verzückt auf die alte Kukucksuhr mit ihren als Eichenzapfen geformten Gewichten an ihrem Ehrenplatz in der Stube. "Die Deutschen", seufzte sie dann, "die Deutschen und die Schweizer, die konnten Uhren machen!"

Ysaj kaute den köstlichen Kuchen und versuchte, nicht auf die überall um sie herum gezählte Zeit zu achten. Tick-tack. Tack-tick. Ticketack-tack.
"Ich glaube, wir hatten Angst vor Jolanda", meinte Maria, ebenfalls kauend.
"Nicht direkt. Nicht, dass wir es gewusst oder zugegeben hätten. Aber sie war so anders".
"Inwiefern anders"?
"Ein wenig verrückt. Auf eine ganz seltsame Weise. Beunruhigend".
Maria fixierte die alte Uhr, ihr Lieblingsstück, stand dann auf und verschwand in der Küche. Man hörte sie eingie Schubladen aufziehen, dann das "Klick" des Anzünders für den Gasherd. Mit einem weichen Lappen in der Hand kehrte sie zurück und wischte etwas Unsichtbares von den Gewichten der Uhr.

"Maria?"
"Hmh?"
"Was meinst Du mit sie war ein wenig anders? Was war beunruhigend?"
"Ah, ja". Während sie in den Sessel sank, legte Maria den Lappen auf die Lehne und nahm noch ein Stück Kuchen.
"Das zeigte sich an ganz alltäglichen Situationen, Ysaj. Situationen, die auf einmal ein Eigenleben bekamen. So als wäre ein Geist in alle gefahren". Sie schlürfte den heißen Tee, tunkte den Kuchen hinein und sprach mit vollem Mund weiter:
"Das hört sich jetzt dramatischer an, als es ist. Es war nicht... benennbar, nicht auszusprechen....Zum Beispiel wohnte damals neben uns ein Bauer. Der hatte einen ganzen Garten voll Apfelbäume. Jeden Morgen im Spätsommer und Herbst ging er heraus und sammelte die Äpfel ein. Einen Teil verkaufte er, den größten Teil verfütterte er an seine Schweine. Er stand ganz früh auf, noch im Dunkeln, und fischte mit einer Harke auch die Äpfel auf, die auf unser Grundstück gefallen waren.
Manchmal waren wir schneller und konnten sie vorher einsammeln, aber meistens war er schon da gewesen. Wir waren immer hungrig damals. So waren die Zeiten eben. Aber der Bauer war halt, wie er war, und Mutter hatte gesagt, wir sollten nicht mit ihm streiten. Nur Jolanda....Jolanda sah das ganz anders. Ein anderer Nachbar hatte ihr nämlich gesagt, die Äpfel, die auf unser Grundstück fielen, seien rechtmäßig unser Eigentum. Das war ein gebildeter Mann und Jolanda sah den Bauern fortan als Dieb. Als jemanden, der ihr das Frühstück stahl. Ich sah das vielleicht auch so, ich weiß es nicht mehr, aber Jolanda war so... empört, so voller Zorn, dass sie dem Bauern wünschte, er solle in seiner Jauchegrube etrinken".
Wieder blickte sie auf die Uhr. "Der Mocca kocht uns über wenn wir nicht in die Küche gehen".

In der Küche setzten sie sich an den Tisch, der Mocca war noch nicht soweit.
"Das wäre alles ganz normal gewesen", fuhr Maria fort, während sie die Moccatassen aus dem Schrank holte, "wenn sich nicht einige Zeit darauf genau das zugetragen hätte. Der Bauer hatte eine tiefe Jauchegrube hinter dem Schweinestall. Dort stand die Gülle bestimmt zwei Meter hoch, wie lang die Grube war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war sie riesig und stank. Und in diesem Spätsommer gab es einen der typischen Wolkenbrüche, es goß wie aus Eimern. Kein Mensch, der nicht unbedingt mußte, ging aus dem Haus - nur Jolanda und er. Sie, weil sie vor ihm bei den Äpfeln sein wollte und er, weil er so geizig war".
Sie stellt die Zuckerdose auf den Tisch.
"Big Ben" begann zuerst und unmittelbar fielen alle anderen Uhren mit ein. Sechs Uhr. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, dem Klang nachzulauschen, fuhr Maria fort, sobald sich das Uhrengewitter ein wenig beruhigt hatte. Vom letzten Nachhall der "Zagreber Kathedrale" begleitet sagte sie:

"Nun, er war schneller. Es war noch dunkel aber er war vor ihr da und sie konnte grade noch schemenhaft sehen, wie er mit seinem Weidenkorb in Richtung Schweinestall abmarschierte. Völlig durchnässt kam sie ins Haus, zog sich aber nicht um, sondern stellte sich an den Ofen und starrte in die frisch entfachte Glut. Sie hatte einen ganz merkwürdigen Blick. Ich fragte sie, ob sie Tee wolle, aber sie gab keine Antwort. Mir war es egal, Jolanda war halt seltsam. Als sie die Schritte unserer Mutter auf der Treppe hörte, ging sie mit dem Gesicht noch näher ans Feuer. Dann ballte sie die Fäuste und zischte schnell: "In deiner Jauchegrube sollst du ertrinken, am Dreck deiner Schweine die unsere Äpfel fressen!" und rannte die Treppe hoch an Mutter vorbei, die schimpfte, weil Jolanda bis auf die Haut nass war vom Regen".

"Bleib sitzen". Der Mocca hob sich und Ysaj trat an den Herd. Maria lächelte und sagte: "Lass ihn sich zwei Mal heben".
"Ich weiß, Maria", lächelte Ysaj zurück. "Was ist dann passiert?"
"Danach? Der Bauer ist ertrunken. Es kamen solche Wassermassen vom Himmel, er ist in dem Schlamm ausgerutscht und in die Jauchgrube gefallen, die vom Regen sowieso schon übertrat. Das war eine Sauerei, sag ich Dir!" Sie lachte. Stand auf und legte Pistazien in ein Schälchen, das sie auf den Tisch stellte. Der Mocca war fertig und Ysaj schöpfte mit einem Löffel den Schaum ab, verteilte ihn gerecht auf die zwei Tassen, bevor sie eingoß.
"Eine Sauerei ohnegleichen!" lachte Maria und setzte sich wieder. "Das Gewitter war so laut, niemand hörte irgendetwas. Der Bauer wurde erst zwei Tage später in der Gülle gefunden, da schrien die Schweine schon vor Hunger. Aber Schweine sind ja sowieso empfindlich".
Sie nippten an dem Mocca; er war gut. Erstklassiger Arabica.
Maria legte ihre Hand auf Ysajs. Ihre Stimme wurde leiser.
"Es muss ungefähr eine Woche später gewesen sein, da wachte ich mitten in der Nacht auf und Jolanda saß an meinem Bett. Sie hatte wieder diesen seltsamen Blick.
Maria, sagte sie, ich hab den Bauern umgebracht. Ich war ganz erschrocken. Wie meinst du das, du hast ihn umgebracht? hab ich sie gefragt. Na, umgebracht. Ich hab ihm gewünscht er soll in der Gülle ertrinken und das ist er auch. Ertrunken in der Jauchegrube wie ichs ihm gewünscht hab!
So ein Unsinn! hab ich gesagt. Und dass es ein Unfall war und dass Gottes Wege unergründlich sind und all sowas. Aber Jolanda war fest davon überzeugt, sie habe den Bauern getötet. Es war ihr nicht auszureden. Schlimmer noch, sie hatte ganz arge Albträume, wachte heulend und schweißgebadet auf... und das noch lange Zeit nachdem der Bauer ersoff".
Sie machte eine kurze Pause, dann begann sie, die Pistazien zu schälen.
"Da war nichts zu machen, sie glaubte, dass sie an seinem Tod schuld war. Keiner sonst hat das geglaubt, das waren für uns alles Hirngespinnste aber niemand konnte sie vom Gegenteil überzeugen, nicht einmal Vater. Iß!"

Ysaj nahm die geschälten Pistazien und schob sie sich gedankenverloren in den Mund. Der Tod des Bauern in der Jauchgrube, umgeben von Donner und Regen, hatte etwas Düsteres. "Und damals begann es", murmelte Maria, erhob sich erneut und nahm Schnaps aus dem oberen Schrank. Mit dem Kopf wies sie hinter Ysaj, die verstand und zwei Pinnchen vom Regal nahm. Mit einer nahezu verschwörerischen Geste goß Maria den Sljivovic ein.
"Natürlich war das mit dem Bauern ein Unfall, ein unglücklicher, dummer Unfall. Aber ich will Dir etwas erzählen, woran du dann siehst, was ich meine".
Sie stießen an und nippten beide am Pflaumenschnaps.
"Einige Wochen später passierte Folgendes, es war beim Abendessen für die Brüder. Die beiden ältesten Brüder waren schon Teenager und arbeiteten ja schon und sie aßen später, wenn sie von der Arbeit kamen. Wir hatten nicht viel und Mutter war der Meinung, wer arbeitet und Geld heimbringt, soll ordentlich essen. Also bekamen Vater und die beiden älteren Brüder auch mal Wurst oder Fleisch. In der Woche davor hatten Verwandte auf dem Land geschlachtet und Würste geschickt. Mutter teilte die gut ein und die Männer hatten regelmäßig Wurst zum Abendbrot. An einem Abend, die Mutter war noch Brot holen gegangen, stellte sich Jolanda zu unserem Ältesten an den Tisch. Sie war fünf damals, ich weiß es, weil ich sieben war. Und sie sah ihm zu, wie er die Wurst aß, die er sich als Letzes aufgehoben hatte. Er ißt also die Wurst und sie schaut ihn von unten an, jeden Bissen hat sie verfolgt mit ihrem seltsamen Blick. Er aber, ganz abgebrüht, aß weiter. Ich wußte, er würde ihr nichts abgeben, ich hatte bei ihm auch schon mehrfach versucht, etwas abzustauben. Wie er aber das letzte Stück auf die Gabel spießt und essen will, zischt Jolanda ihn an: "Dass du an dem ersticken mögest!"
Der Bruder: "Was hast Du gesagt?!" Ich dachte, jetzt setzt es Ohrschellen und wollte Jolanda helfen. Da hat sie mich nur kurz angesehen und ich schwöre Dir ihre Augen! Das war ein ganz seltsames Grün. Auch der Bruder hat es gesehen. "Bleib, wo du bist!" sagt sie zu mir, dann dreht sie sich wieder zu ihm und faucht: "Die ganze Zeit sehe ich Dich an, dass mir ein kleines Stückchen nur abgibst. Jetzt kannst von mir aus am letzten ersticken!"
Maria kippte den restlichen Schnaps in einem Zug herunter. "Was soll ich sagen? Er gab es ihr. Nicht nur das Stück. Er gab ihr jedes Mal, wenn es Fleisch oder Wurst gab, die Hälfte. Der andere Bruder auch. Und sie hat es mit mir geteilt und den Kleinen. Verstehst Du?"
Sie goß sich nach.

Das Tick-Tack-Tack war verschwunden, Ysaj hörte die Uhren nicht mehr. Dafür meinte sie aber, das Meer zu hören oder das Rauschen von riesigen Wäldern. Eine weite, wohlige Wärme hatte sich in ihr ausgebreitet und die rührte nicht vom Schnaps, von dem sie nur kurz genippt hatte. Diese Wärme kam aus einem Raum hinter Marias blauer Iris, aus Marias gemeinsamer Zeit mit Jolanda. Sie hob ihr Gläschen und die beiden Frauen stießen an. Maria lachte hell und schlürfte vom Sljivovic.
"Es gehört sich für eine Dame nicht, zwei Pinnchen zu kippen", lächelte sie verschmitzt. "Komm, es wird Zeit! Wir nehmen den zweiten Mocca in der Stube. Da Jolanda nicht da ist, mußt heute Du statt meiner Schwester mir aus dem Kaffeesatz lesen". Sie hatten die Stube betreten und Maria nahm eine kleine Samtschachtel aus dem Schrank und gab sie Ysaj. "Und dafür bekommst Du das".
Als Ysaj die Schachtel öffnete, lag dort ein silberfarbener Kugelschreiber. "Schöner, moderner Kram", wie Maria sagte. Und im oberen Teil des Kugelschreibers blitzte ihr die LED-Anzeige einer kleinen, eingebauten Uhr entgegen. Natürlich. Sie lächelte. Einer Uhr.



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