Sonntag, 4. Dezember 2005

Der Duft der kleinen Welt.

Das ganze Land wurde von Mythen und Geschichten zusammengehalten. Wenn die Gebrüder Grimm je den Balkan erreicht hätten, sie wären sich wie im Paradies vorgekommen. Das Philosophieren über die Geschichten war Tradition gewesen in den feinen Salons der Städte, man genoß nicht minder die Geschichten selbst über die hernach debattiert wurde; und sogar jeder einfache Landarbeiter trug wahre Kostbarkeiten mit sich herum, Erzählungen und Märchen säckeweise. Das hat sich in der Moderne nur langsam verändert. Fährst du aufs Land ruhen dort die Geschichten auf den sanften grünen Hügeln, plätschern mit den Bächen in verzauberte Landschaften, hocken auf Heuhaufen und laufen den Wachgänsen nach.

Als Jolanda noch sehr jung war, das war im ebenso jungen Tito-Jugoslawien, Jolanda musste inetwa 14 Jahre alt gewesen sein, bewarb sie sich für eine Ausbildungsstelle bei einem Bibliothekar. Ihre ältere Schwester besaß ein paar Schuhe und immer, wenn Jolanda eine offizielle Stelle aufsuchen musste, trug sie diese Schuhe, ansonsten lief sie barfuß. Jolanda wartete und wartete an diesem Tag, doch die leichtlebige Schwester kam nicht heim, war zu irgendeinem Rendezvouz gegangen und hatte Jolanda vergessen oder es war ihr einfach egal. Die Zeit wurde knapp und Jolanda, in einem ambivalenten Gemütszustand, einer Mischung aus Zorn auf die Schwester und Scham ob der fehlenden Schuhe, zog ihr bestes Kleid an, bestieg die Tramvaj und fuhr in die Stadt zum Vorstellungsgespräch.

In der Innenstadt lief sie zum Fernsprecher. Wie beim ersten Anruf meldete sich eine freundliche Frauenstimme und bestätigte ihren Termin in einer halben Stunde. So gern sie auch sonst durch die farbenfrohe Innenstadt mit ihren wunderbaren Düften schlenderte, setzte sich Jolanda an diesem Tag auf eine Bank und wartete. Die Passanten sahen auf ihre nackten Füße, manche schüttelten unwillig den Kopf, andere blickten ihr direkt in die Augen als suchten sie dort etwas Fremdes, ja Verruchtes. Trotzig erwiderte Jolanda den Blick, schob das Kinn vor und schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Der Minutenzeiger auf der großen Uhr, die über den Platz der Republik (heute: Jelacic-Platz) thronte, schleppte sich zäh voran.

Vielleicht war es dieses Warten oder etwas in Jolandas kindlichem Gemüt, das einen Anker suchte, eine Tür in diesem Wall aus Blicken. Als sie zwanzig Minuten später die Buchhandlung betrat geschah etwas mit ihr. Die großen Regale, bis an die Decke gefüllt mit Büchern, verbreiteten eine fast erotische Atmosphäre. Oben, auf der Galerie, standen die duftenden, alten Lederbände und waren das Schönste, das Jolanda in ihrem Leben gesehen hatte. Diese alten Bände standen in der Verkaufsabteilung, die einen Auszubildenden suchte. Als sie den Gang zwischen den Regalen zur Kasse schritt sah sie staunend nach links und rechts: immer nur noch mehr Bücher. Es mag sein, dass Jolanda sich an diesem Tag verliebte. In die Bücher. In den Duft der Ledereinbände, die sie später so bevorzugte. In die Atmosphäre. In ihr späteres Leben. In einen Teil ihres Selbst, der bis dahin nur zitternd und versteckt in ihr gewartet hatte auf einen Fluchtweg und ihn jetzt mit beiden Händen ergriff mit einer Intensität, die Jolanda haltlos überfiel, wie sie dort zwischen all diesen Büchern stand, offenen Mundes, und kaum begriff, wie ihr geschah, was ihr geschah.

Die Verkäuferin an der Kasse lächelte, es war die freundliche Stimme vom Telefon, die ihr den Weg ins Hinterzimmer wies. Nervös klopfte sie an und betrat nach einem sonoren "Herein!" den Raum. Der gutgekleidete Herr in mittleren Jahren erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor, seine Hand ausstreckend, um sie zu begrüßen. Er nahm ihre Hand in seine, schüttelte sie - und stutze.

"Junge Dame", sagte er daraufhin und wies auf ihre nackten Füße. "Ist das jetzt eine neue Mode?"
"Nein", erwiderte Jolanda beklommen und blickte ihn trotzig an.
"Warum erscheinen Sie dann barfuß? So läuft man nicht herum, Kind".
Seine Stimme war warm, auch wenn die Verwunderung aus ihr sprach. Jolanda zögerte. Sicher waren eine Menge Bewerber angemeldet, die hier standen oder noch stehen würden in Schuhen. Arbeit war knapp und begehrt in diesen Jahren. Sie sah die Tür zu dieser wunderbaren Welt sich wieder schließen, dachte an all die Bücher im Ladenraum und ihr Zorn auf die Schwester flammte erneut auf, heiß und bohrend. Maria, die von diesem Termin wusste. Maria, die nicht heimgekommen war und jetzt in den Schuhen herumstolzierte, die sie hätten retten können.
Und dann, in dem Strudel der Gefühle, die sie zu übermannen drohten, kam das alte Blut ihr zuhilfe und sie sagte gerade heraus:
"Nein, Onkel. Es ist keine neue Mode, es ist Zeugnis für Armut. Und derer muß man sich nicht schämen". Und erzählte ihm von Maria und den Schuhen.
Der Mann musterte ihr Gesicht. Lange. Dann lächelte er und griff zum Telefon.
"Frau Jadranic, würden Sie bitte kurz hereinkommen".
Er bot Jolanda einen Stuhl an und sie setzte sich in den ledergepolsterten Hafen vor seinem Schreibtisch, presste die zitternden Knie aneinander und sah ihm zu, wie er einige Papiere aus seinem Schreibtisch zog. Eine ältere Dame betrat den Raum, ihr Parfum roch nach Veilchen und gab dem Silber ihres Haares etwas Sanftes.
"Ah, Frau Jadranic", sagte der Buchhändler. "Bitte geben Sie unserer neuen Auszubildenden 50 Dinare, damit sie sich Schuhe kaufen kann. Und bitte hängen Sie ein Schild im Schaufenster aus, dass die Stelle vergeben ist".

Die Frau blickte auf Jolandas Füße, die diese unter dem Stuhl zu verstecken suchte, sagte aber nichts. Jolanda begriff zuerst nicht. Doch der Mann trat zu ihr, reichte ihr die Papiere und sagte: "Das hier bringen Sie bitte ausgefüllt wieder mit". Dann gab er ihr erneut die Hand und sagte zwinkernd: "Willkommen bei uns. Am Montag fangen Sie an und kommen Sie bitte mit Schuhen".
Er lachte und es war ein Geräusch wie Frühsommer, wenn die Bäume im Wind anders klingen, da sie Blüten tragen. Als sie hinter der älteren Dame zur Kasse schwebte, schienen die Bücher sie anzulächeln. Sie nahm die 50 Dinare, erhielt einen Rat, wo gute Schuhe zu kaufen seien und verließ, immer noch schwebend, die Buchhandlung.

Den Weg zum vier Straßen weiter gelegenen Schuhladen hüpfte sie unter weiteren Blicken, die ihr jetzt nichts mehr ausmachten. Im Laden gab man ihr unter verwundertem Tuscheln zwei paar Strümpfe, damit sie die Neuware anprobieren konnte. Und Jolanda probierte und probierte an, bis die Verkäuferin ungeduldig wurde und säuerlich das Gesicht verzog. Dann fiel Jolandas Blick auf ein Paar Schuhe, die damals modern wurden, beige, an Absatz, Ferse und Spitze mit schwarzem Leder abgesetzt. Schuhe, wie sie die Mutter schon immer haben wollte. Und wir wissen, was sie getan hat: Sie hat diese Schuhe gekauft. In der Größe ihrer Mutter, die irritierte Frage der Verkäuferin ignorierend: "Ja wollen Sie diese denn nicht anprobieren?"

War heimgefahren. Hatte allen gesagt, dass sie die Stelle bekommen hatte. Hatte zu Abend gegessen mit der riesigen Familie, den älteren Brüdern zugehört, wie sie über die Arbeit sprachen und sich dazugehörig gefühlt. Jetzt war sie kein Kind mehr. Hatte mit der Mutter abgewaschen und Mocca gekocht. Und als es stiller wurde im Haus, weil die Brüder ausgegangen waren und die Kleinen schon schliefen, der Mutter die Schuhe geschenkt. Die das alte Blut sie hatte kaufen lassen, ein Impuls, der so alt war, so alt und den die Anderen immer als verrückt bezeichnen würden, was Jolanda an diesem Abend lernen sollte.
Die Mutter, erst sprachlos und gerührt, ihre Mutter, die sich nie etwas von dem hatte anmerken lassen, was ihr dann dort in der Küche sozusagen herausrutschen sollte, zog die Schuhe an, stolzierte in ihnen vor dem Ofen auf und ab wie eine große Dame und Jolanda lachte und klatschte dabei in die Hände. Auch die Mutter lachte, drehte sich um sich selbst, hielt dann plötzlich inne, zog Jolanda aus dem Stuhl und drückte sie an die Brust. "Ach", sagte sie. "Ach, ach", und Jolanda spürte, wie aus dem Lachen ein Weinen wurde. Sie wollte sich lösen, um der Mutter ins Gesicht zu sehen, doch diese presste sie mit so wilder Kraft an sich, dass sie innehielt. "Ach", schluchzte die Mutter. "Von jedem Anderen hätte ich sie erwartet.... Deine Brüder arbeiten schon so lange .. und keiner von ihnen hat an mich gedacht.." Das Schluchzen ging in einen Weinkrampf über. Jolanda umarmte die weinende Frau fest, strich ihr über das Haar; die Zärtlichkeit dieses Augenblickes, die Tiefe der Empfindungen, trieb auch ihr die Tränen aus den Augen. "Es ist alles gut, Mama", flüsterte sie, aber die Mutter schüttelte stumm den Kopf, dicke Tränen tropften von ihren Wangen auf Jolandas Schulter.
"Ach", schluchzte die Mutter, "von jedem Anderen hätte ich sie erwartet. Und von Dir, die ich am wenigsten von allen geliebt habe, von Dir bekomme ich sie".

Jolanda hatte die Stelle im Buchladen behalten. Sie erschien am kommenden Montag barfuß und erzählte ihrem Vorgesetzten unter Tränen von dem Vorfall. Er schickte Frau Jadranic mit ihr neue Schuhe kaufen - mit dem lachenden Kommentar, man wisse ja nicht, wieviele Schwestern sie noch hätte.


Ulmenjahr


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