Dienstag, 4. Oktober 2005

...

Während Du schläfst
webe ich Deine Atemzüge
an meinem Ohr
in mein Lied.


Rubrik: Poems

Schnecken


Jolanda besaß zwei Pfeifen. Eine hölzerne, das war ihre, wie sie sagte, öffentliche Pfeife und eine aus Elfenbein, oben geschwärzt und am Bauch speckig geschmirgelt von unzähligen Griffen. Die Merowinger nannte sie diese Pfeife und rauchte sie nur zu bestimmten Gelegenheiten. Obwohl ein bestimmter Rhythmus im Wechsel der Pfeifen vermutet wurde kam niemand dahinter, wonach es sich richtete, dass Jolanda heute die aus seltenem Elfenbein rauchte und an anderen Tagen nicht. Es war auch so ungewöhnlich genug, eine Frau die Pfeife rauchte. Vielleicht gab es auch gar keinen Grund außer einer herzlichen Intimität, die Jolanda mit dem alten Stück verband, so dass sie an ruhigen oder einsamen Abenden lieber daraus rauchte, wenn sie in besinnlicher Stimmung und still war.

Heute aber verengten sich ihre Augen zu zornigen Schlitzen, stumpfe schwarze Kohlen vor einer auflodernden Glut. Sie beugte sich nach vorn, die Pfeife vor sich haltend wie ein Messer:
"Was redest Du da für einen Unsinn?"

"Jolanda, das ist kein Unsinn. Hör mir doch mal zu. Das ist ein reines, ein unbeflecktes Gefühl und ich empfinde das genau so!" erwiderte Ysaj, erschrocken über die Heftigkeit der älteren Frau.
"Ach ja?" Jolandas Gesicht kam noch näher, ein verächtlicher Zug spielte um ihre Mundwinkel und nistete sich dort ein, wurde hineingepresst von Jolandas Zischen: "Ich bleibe dabei, dass es Unsinn ist. Verklärter Unsinn außerdem!"

Ysaj spürte den Zorn an der Nasenwurzel, bohrend. Nüstern. Aufkeimende Tränen. Sie öffnete den Mund zu einer vernichtenden Antwort und schloß ihn sofort wieder. Sie haßte es, wenn Jolanda so war. So alt. So allwissend. So erhaben über alles, verdammt, über alles. Heute war es besonders schlimm. Es war ihr so wichtig gewesen und jetzt d a s; trotzig schwieg sie und starrte dem Qualm zur Decke nach, zündete noch eine Zigarette an und dann noch eine, brennende Stille: Jolanda und ihre Brandzeichen: das schürte ihre Wut, ihren Widerstand, ihre Ohnmacht. "Was Du brauchst ist nicht Nikotin sondern weniger Schrullen in Deinem jungen Kopf", kam es aus dem großen Sessel. Ysaj sprang auf, drückte die Zigarette aus, griff nach ihrer Jacke, den Kopf geduckt wie ein wütender Widder.
Ungerührt setzte Jolanda nach: "Du liebst ihn also so sehr, dass Du sterben könntest für ihn? Das willst Du mir sagen?". Sie war aufgestanden; ihre gemütliche Rundlichkeit war plötzlich wie weggewischt als sie neben Ysaj glitt: "Willst Du mir das sagen?!"
"Ja, genau das will ich damit sagen", kläffte Ysaj zurück. "Und wenn Du nicht so anmaßend wärest würdest Du es verstehen!"

Schallendes Lachen. Es zerrte an Ysajs Zorn und riß genauso abrupt ab, wie es eingesetzt hatte. "Tatsächlich?" Zweimal schlug der Pfeifenkopf gegen den Rand des Aschenbechers bis die Glut hinausfiel. Langsam, sehr langsam stopfte Jolanda die Pfeife, legte sie beiseite unter die Tischlampe am Fenster. "Nun"? Ysaj schwieg.
"Ich will Dir mal sagen, was anmaßend ist, Grünschnabel. Zu sterben, das ist anmaßend! Außerdem: Was hätte irgendwer davon, wenn Du stirbst? Für Dich wäre es vorbei, den Schmerz würden die Menschen tragen, die Dich lieben. Hab den Mut, alt zu werden, Holzkopf!".
"Soll ich ihm etwa das sagen? Dass ich alt werden will? D a s ist Unsinn!"
"Ach, Du willst also wissen, was Du ihm sagen sollst?! Das ist es? Komm mit!"
Sie packte die junge Frau am Ärmel und zog sie mit einer Kraft zur Tür, die ihr Alter vollkommen vergessen ließ. Auf der Veranda drückte sie Ysaj auf die Bank, "warte hier!", und stieg die drei Stufen hinunter in den Regen. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück, eine große Schnecke zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, setzte das beige-braun gemusterte Schneckenhaus mit einer sanften Bewegung auf das Geländer und wartete kurz. Dann, die Schnecke wagte sich grade vorsichtig wieder hervor und streckte sich auf dem nassen Holz , sagte sie:

"Bis die Schnecke am Ende der Brüstung angekommen ist, schreibst Du, was Du ihm wirklich sagen willst. In e i n e m Satz, Buchstabe für Buchstabe, keinen Roman! Und ich meine: Du schreibst so lange, bis sie dort ist. Danach kannst Du zum Tee reinkommen wenn Du willst!"
Mit einem Knall fiel die Tür hinter Jolanda ins Schloß. Ysaj starrte auf die Schnecke, die langsam, unendlich langsam ihre Spur zog. Als sie dann in die Jackentasche griff, rutschte das kleine Notizbuch fast augenblicklich in ihre Hand. Minutenlang aber suchte sie den Bleistift, bis sie ihn in der Hosentasche fand. Die Schnecke schien derweil gar nicht vom Fleck gekommen zu sein. Was sollte das? Ob Jolanda senil wurde? Oder war das nur wieder eine ihrer Schrullen, die im Alter schlimmer wurden? Ein hartes Klopfen gegen das Fenster schreckte sie auf. "Fang an! Das Tier hat nicht ewig Zeit! Einen Satz!" kam es aus dem Haus.
Verstohlen blickte Ysaj über die Schulter, durch das Fenster; die Lampe warf Jolandas Schatten ins Blickfeld und Ysaj hätte schwören können, dass die alte Pfeife eine Schlange war. Oder eine Zunge, Jolandas Zunge, die trotzdem eine Schlange war.



Rubrik Ulmenjahr


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