Montag, 11. Juli 2005

Argus. Variation VII.

Als einmal Frühling war, sprach Prinzessin Ateh: "Ich habe mich an meine Gedanken gewöhnt wie an meine Kleider. Sie haben immer den gleichen Taillenumfang und ich sehe sie überall, sogar an den Wegekreuzungen. Am schlimmsten aber ist, dass man vor ihnen nicht einmal mehr die Wegekreuzungen erkennen kann".

Um sie zu zerstreuen, brachte das Gesinde der Prinzessin eines Tages zwei Spiegel. Sie unterschieden sich nicht sehr von den anderen chasarischen Spiegeln. Beide waren aus geschliffenem Salz hergestellt, doch war der eine ein schneller, der andere ein langsamer Spiegel. Was immer jener schnelle vorwegnahm, indem er die Welt als Vorschuß abbildete, gab der zweite, jener langsame, zurück und beglich so die Schuld des ersteren: Im Verhältnis zur Gegenwart verspätete er sich immer um genau so viel, wie der erste vorauseilte. Als man Prinzessin Ateh die Spiegel brachte, hatte sie sich noch nicht vom Bett erhoben, und von ihren Augenlidern waren die Buchstaben noch nicht abgewaschen. In den Spiegeln sah sie sich mit geschlossenen Lidern und verstarb sogleich. Sie verblich zwischen zwei Augenaufschlägen, oder besser gesagt, sie las zum ersten Mal auf ihren Augenlidern die Schriftzeichen, die todbringend waren, weil sie im vorausgegangenen und im nachfolgenden Augenblick zwinkerte und die Spiegel dies wiedergegeben hatten. Sie starb, gleichermaßen getötet durch die Schriftzeichen aus Vergangenheit und Zukunft.



[Aus: Milorad Pavic, "Das chasarische Wörterbuch - männliches Exemplar".
Hier findet sich wieder einmal Pavics herausragende Erzählernatur in der Auseinandersetzung mit dem Wort und der Sprache an sich. "Das Wort Tod tötet" beschrieb ich es einmal in einem Gedicht - die fließenden Übergänge zwischen Gedankenkraft, ihrem Sprachausdruck und Wirklichkeit. Der Blick tötet ebenfalls, jedoch auf andere Weise (als das Wort). Das Variationsspiel "Argus" ist eine Harfnersaite neben der anderen in der Vielfältigkeit seiner Pränsenz.]


Rubrik Texte


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