Unter Leuten II

"Ich wusste gar nicht, dass sie Jüdin war".
Sehr leise stellte Maria die Moccatasse auf den Tisch. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Naja, bei den vielen versteckten Ustasa mit roten Parteibüchern hätte ich es vielleicht auch geheim gehalten und auf dem Bahnhof geputzt, wo ich niemandem auffalle und trotzdem jeden Tag meiner Arbeit nachgehe. So kann einem keiner was nachsagen...."
"Du meinst, sie hat darum dort jeden Abend nach der Arbeit auf der Bank gesessen und die Tauben gefüttert?"
"Sie war allein, wer weiß schon, was es helfen kann, auf Bänken zu sitzen und die Tauben zu füttern..."
"Ich habe sie gefragt", warf Jolanda ein und stopfte weiter an ihrer Pfeife. "Dreimal".
"Wieso denn gleich drei Mal?"
"Das erste mal waren wir noch Kinder. Weißt Du noch? Da gab sie mir was von dem Brot für die Tauben".
"Ja, ich erinnere mich. Aber nicht mehr daran, dass Du mit ihr viel geredet hättest".
Jolanda zündete die Pfeife an, nahm einen tiefen Zug und blickte unwirsch in die Runde der Uhren, die überall herumstanden. Nach all den Jahren wurde sie das Gefühl immer noch nicht los, in Marias Wohnung von der Zeit umzingelt zu sein.
"Das zweite Mal habe ich sie gefragt, da war ich schon seit Jahren mit der Lehre fertig", fuhr sie fort. "Es war im Herbst und sie saß immer noch auf der gleichen Bank. Man hätte meinen können, sie gehört zum Bahnhof wie die Laternen und die Gleise, so hatte man sich an ihren Anblick gewöhnt".

"Ja, sie gehörte irgendwie dazu. Mir fiel sie erst wieder ein, als sie nicht mehr auf der Bank saß. Auf einmal war sie verschwunden, von heute auf morgen einfach weg".
"Sie ist gestorben".
"Wann denn?"
"Ende der Siebziger".
"Da muss sie schon sehr alt gewesen sein, sie war doch schon damals nicht mehr jung, als wir Kinder waren. Wann war das mit dem Brot? 51? 52?".
"Ja. Es war 1952. Sie starb auf der Bank, Maria. Mitten unter den Tauben. Sie haben es erst bemerkt, als die Vögel ihr schon auf dem Schoss saßen und die Brottüte aufpickten".
"Das wusste ich nicht".
"Eine Woche vorher, da fuhr ich zurück an die Küste, hab ich sie nochmal gefragt. Sie holte eine Bajardera* aus ihrer Tasche und sagte: Die ist für meinen Mann. Er kommt heute zurück. Wohin ist er denn gefahren hab ich sie gefragt. Nach Polen, sagte sie. Die Deutschen haben ihn nach Polen weggebracht. Heute kommt er zurück, ich weiß es bestimmt".


[*Bajardera: Kroatische Nougatpraline]



Ulmenjahr
bvl - 1. Sep, 23:59

wissen sie

ihre sanfte art mir mein deutsches herz herauszureissen
ist nachhaltig.

handkuss
bvl

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