Montag, 1. August 2005

Blut und Sprache. Variation VII



muse_erato
Erato

Blut und Sprache. Variation IV

Die erste Begegnung mit dem Tod hatte ich mit etwa sechs Jahren. Mein Vater besaß einen Jagdhund, Argo; er war von sanftem, freundlichem Wesen und mein liebster Spielgefährte. Ganze Nachmittage fütterte ich ihn mit Breichen aus Schlamm und Gras , oder ich zwang ihn, sich von mir frisieren zu lassen, und er trottete, ohne sich aufzuregen, mit clipgeschmückten Ohren durch den Garten. Eines Tages jedoch, als ich wieder einmal eine neue Frisur an ihm ausprobierte, bemerkte ich eine Schwellung an seinem Hals. Schon seit einigen Wochen hatte er keine Lust mehr zu laufen und zu springen wie früher, und wenn ich mich in eine Ecke setzte, um mein Nachmittagsbrot zu essen, baute er sich nicht mehr hoffnungsvoll seufzend vor mir auf.

Eines Mittags erwartete mich Argo nicht mehr am Gartentor, als ich aus der Schule kam. Zuerst dachte ich, er sei mit meinem Vater unterwegs. Als ich aber meinen Vater, ohne Argo zu seinen Füssen, ruhig in seinem Arbeitszimmer sitzen sah, geriet ich in große innere Erregung. Ich ging hinaus und rief laut schreiend überall im Garten nach ihm, kehrte auch zwei- oder dreimal ins Haus zurück und durchsuchte es vom Keller bis zum Dachboden.
Am Abend, als ich meinen Eltern den obligatorischen Gutenachtkuß geben sollte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte meinen Vater: "Wo ist Argo?" - "Argo", erwiderte er, ohne den Blick von der Zeitung zu nehmen, "Argo ist weggegangen". - "Warum denn?" fragte ich. "Weil er deine Quälereien satt hatte".


[Aus "Geh, wohin dein Herz dich trägt", Susanna Tamaro]

Blut und Sprache. Variation III



josephgoebbelsrantsbeforegainingpower


"Es gibt sie, glaube mir", flüsterte Jolanda in die Leere des Raumes. "Ich habe sie gesehen. Sie morden mit Buchstaben".

Textauszug aus: Ulmenjahr

Blut und Sprache. Variation I



abc


Zu Milos Okukas "Eine Sprache, viele Erben"

Sprache als Machtinstrument

Es gibt wenige Bücher, die den Zerfall Jugoslawiens und dessen dramatische Folgen so profund ausleuchten wie Miloš Okukas Studie über «Sprachpolitik als Nationalisierungsinstrument in Ex-Jugoslawien». Okuka, als Slawist ehemals in Sarajewo tätig, heute Dozent an der Universität München, holt historisch weit aus: Er beschreibt die langwierige, politisch begründete Herausbildung einer serbokroatischen Schriftsprache im 19. Jahrhundert, die mit dem Wiener Sprachabkommen von 1850 Konturen annahm, zeichnet die in der Folge ständig aufflammenden Kämpfe zwischen Unitaristen und Separatisten nach, um anhand der Entwicklungen der letzten Jahre seine These zu bekräftigen, dass Sprache ideologischen Manipulationen unterliegt und im Extremfall zur Waffe verkommt. «Dem Krieg im früheren Jugoslawien ging ein Medienkrieg voraus, der mit der Gewalt gegen die Sprache die Gewalt in der Praxis, die ethnischen Säuberungen vorbereitete.»

Heute, nach vollendeten «Nationalisierungen», ist die Sprache selbst als Opfer zu beklagen. Das ehedem gemeinsame Serbokroatische, das sich zweier Alphabete und zweier Aussprachen bediente, ist dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen gewichen. Aus zwei «streng polarisierten Kulturdialekten», wie es linguistisch korrekt heisst, sind – politisch forciert – drei Sprachen geworden. Der Prozess, bei dem Wörterbücher und Grammatiken die Rolle von Kampfschriften übernahmen, entbehrt nicht tragikomischer Aspekte. Geradezu absurd mutet die Manipulation der Lexik an: Wortneuschöpfungen oder Rückgriffe auf Archaismen im Kroatischen, Belebung und Ausweitung der Turzismen im Bosnischen. Bei den Eigennamen bedeutet solche Abgrenzung in praxi, dass je nach politischer Opportunität ein Dušan zum Duško, eine Jovanka zur Ivanka wird. Denn Patriotismus und Loyalität werden neuerdings am richtigen Sprachgebrauch gemessen. Wehe dem, der sich verrät; es kann ihn teuer zu stehen kommen.

Okukas sorgfältig recherchierte Studie zeigt freilich auch, dass solche «rassistische» Instrumentalisierung der Sprache auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Anders ausgedrückt: Standardsprachen entstehen nicht auf Grund linguistischer Kriterien, sondern auf Grund sprachpolitischer Entwicklungen. Ein ernüchternder Befund.


(Neue Züricher Zeitung)


images

[In den letzten Jahren habe ich Hundertschaften neuer/alter Vokabeln gelernt, welche die ehemals gängigen Worte in Gesamtjugoslavien nun "rein kroatisch" ersetzen, jedoch nie antiquiert waren, da die Seperatisten immer auch durch den Sprachgebrauch ihre Position verdeutlichten. Es ist ein schwer zu erklärendes, psychologisches Moment: Als Kroatin in Zagreb ein serbisches Wort zu benutzen kommt in gewißer Weise einem Spucken auf die Gräber der kroatischen Soldaten gleich. So inetwa ist die Reaktion der Umwelt. Einer Serbin wird dies, aus ethnischen Gründen, zugestanden, mir niemals; semantischer Hochverrat - und dies ist keinesfalls eine Übertreibung. So also überdenke ich, die sich frei Wähnende, jeden Satz in meiner Muttersprache drei Mal, bevor er meine Lippen verlässt]


Post scriptum: Ich möchte, aus Gründen der Vollständigkeit, noch eine andere Ebene hinzufügen (eine von vielen), die ebenfalls einer Betrachtungsweise der sich frei Wähnenden zum Thema entspricht. Hierzu lasse ich ein Bild sprechen:


urga



Join the Blue Ribbon Online Free Speech Campaign


Arbeitsnotate
Buch des Monats
Chatlogs
Chronik des laufenden Wahnsinns
Distichen
Expressionen
Ging-tse
Illuminati
Impressionen
Inspirationen
Nada
Netztrash
Notate
Poems
Poetologie
Prometheus
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren