Argus, Variation VI.

"Das ist so", sagte Jolanda, während sie ihre breiten Rundungen in die Kissen des Sessels drückte und einen Schluck Rotwein nahm. Sie liebte den herben Geschmack von reinem Sangiovese, wenn sie trank, erhöhte sie die Spannung ihrer Zuhörer durch die unerhörte Fähigkeit, einen Moment sozusagen aus den Gesetzen der Zeit zu lösen. Sie dehnte ihn, gab ihm Länge, Geschmack; Ungeduld, ließ die Spannung steigen und ihn verlängern, danach ertänkte sie seine Verbindung zum Sekundenzeiger im Rot des Weins, betrachtete das Glas, hielt es gegen das Licht, schlürfte und kaute den Augenblick zu Minuten, die im Nirgendwo verweilten, um darauf in einem ersten Laut zu münden, der eine Erregung in den Zuhörern entfachte, welche sich plötzlich wieder in einem Kontinuum aus Raum und Zeit wiederfanden, das Pendel der Uhr in den Ohren, Frau Jolanda in ihrem Ohrensessel und das Weinglas vergessen.

"Das ist so", wiederholte sie, "und es ist dem einem Neffen aus der Nachbarschaft meiner Schwägerin so ergangen, als sie noch in Borko wohnte. Niemand weiß, wann es geschah, aber der Kleine Geist fuhr aus ihm. Er lerne für das Leben und nicht für die Schule hatte ihm der Dorflehrer gesagt und so kam der kleine Predrag auf die Idee, die Buchstäblein und Zahlen, die der Lehrer an die Tafel schrieb, seien das Leben. Er lernte sie fleißig und unermüdlich und eines Tages verließ der Kleine Geist ihn. Wie sollte dann noch ein Großer Geist in ihm Platz finden?"
Sie nahm einen weiteren Schluck, sinnierte ihn mit der ihr typischen, zetilosen Mimik und fuhr, aus dem Fenster blickend, fort: "Jedem kann das passieren, das ist eine moderne und tückische Krankheit. Der Kleine Geist entfährt einem und man merkt es nicht. Die einzige Methode, die bekannt ist, um herauszufinden, ob die Seelentür noch offen ist, besteht darin, die Person zu greifen und ihr mit leichtem Druck in das linke Ohr zu pusten. Das kann gefährlicher sein, als Ihr denkt. Nicht jeder Betroffene möchte die Tür wieder öffnen. Oder weiß auch nur darum, dass der Kleine Geist entwichen ist. Und so war es auch mit dem Neffen der Nachbarin, das halbe Dorf hat es gesehen. Seine Geliebte blies ihm ins linke Ohr und er fiel tot um, lag da auf dem Marktplatz und war weiß wie ein Fischbauch".


Rubrik: Ulmenjahr
Markus A. Hediger - 7. Jul, 14:44

Diese harmlose,

süffig dahinplätschernde Sprache und dann - wie die Faust in die Magengrube - schwemmt sie den Tod an wie einen toten Fisch. Das gefällt (hoffentlich nicht nur mir!).

bvl - 7. Jul, 17:20

das "anschwemmen"

gefaellt mir besonders gut... ja.
neo-bazi - 7. Jul, 15:24

Geplätschert

hat bei mir nichts, die Spannung stand im dritten Satz. Aber ich denke, auch ich habe verstanden. Ebenso großes Kompliment!

Exkurs - 7. Jul, 15:37

Der Kleine Geist...

... und das Leben. Oder ist der Kleine Geist das Leben? Wie viele von uns sind durch einen Lehrer oder andere Ereignisse eigentlich schon gestorben und irren als Körper durch die "Lebens"zeit? Wunderschön geschrieben....

TheSource - 7. Jul, 16:05

Merci

für das schöne Feedback.

Zur Sprache: Es ist eine Anlehnung oder vielleicht ein Wiederfinden eines "Serbo-Kroatischen", sozusagen eines bestimmten Erzählstils (im Gegensatz zu den Sprachewissenschaften, in denen dieser Begriff nur ein sprachwissenschaftlicher Hybrid ist, gibt es diesen Stil tatsächlich). Vielleicht auch, weil viel Pavic gelesen in letzter Zeit, der ihn außerordentlich meisterlich beherrscht.
Bei Krleza, dem Vater der modernen kroatischen Literatur findet er sich ebenfalls, er spiegelt die Mentalität vortrefflich.
Ich stelle fest, dass es sich im Deutschen wirklich gut macht, was ich nicht gedacht hätte, es so hinzubekommen.

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