Dienstag, 16. August 2005

Anatomische Seelenspuren.



ildv



Federico Andahazis "Im Land der Venus"


Schon 2001 im Fischer Verlag publiziert, rutschte es in einen Stapel schon gelesener, entfernt abgelegter Bücher und tauchte erst vor zwei Wochen und somit verspätet wieder auf: Andahazis Roman, der bei seinem Erscheinen 1997 in Argentinien einen Skandal auslöste und binnen einer Woche die dortigen Bestsellerlisten im Sturm nahm. Soweit die Information auf dem Bucheinband.

Beim Lesen sucht das Auge nach dem Skandal, dem Stein des Anstoßes, und wird scheinbar nicht fündig. Der historische Roman behandelt ein mittelalteriches Tabu, symbolisiert im Amor Veneris, dem geheimnisvollen Organ, das der Protagonist des Werkes am weiblichen Genital entdeckt. Schon im Voraus ahnt bzw. weiß der Leser, dass es sich bei diesem Organ um die Kliltoris handelt.
Eingebettet in die Psychologie der frühen Renaissance, überschattet vom langen Arm der Inquisition, begibt sich der Anatom Matteo Realdo Colombo, amüsant in Bezug gesetzt zu seinem populären Namensvetter, der 50 Jahre zuvor den neuen Kontinent entdeckte, auf die Suche nach seinem "Amerika" und findet es zwischen den Schenkeln der Frauen. Die Schlußfolgerungen, die er aus der Entdeckung dieses Organs zieht, machen den Skandal aus - einen umfassenden in den Augen der Inquisition, dessen Ausmaß nur noch in sanftem Abebben den modernen Leser erreicht. Doch grade in der skurillen und brutalen Ignoranz der Inquisition schimmert der eine Tropfen von Matteos entdecktem Neuland heraus, setzt sich fest und bleibt bis heute Mysterium, Instrument der Macht, ein Tor zum Palast des Unbekannten. Die moderne Betrachtungsweise des Lesers (und vor allem des männlichen Lesers) wird instrumentalisiert, um den subtilen Keim einer Gralssuche zu implantieren, der auch Matteo, den Anatom, beständig antreibt.
Kaum ein Buch hat in mir den Eindruck erweckt, derart unterschiedlich auf weibliche und männliche Leser(innen) zu wirken und es bleibt im Grunde ein Buch über die beständige Unrast des Männlichen, die, seit es Literatur gibt, immer ein hervorragendes Motiv abgab.

Der Spiegel resümierte in seiner damaligen Kritik, Andahazi sei ein "Hochbegabter, der Patrick Süßkind und Garcia Márquez gründlich studiert" habe. Eine Anlehnung an Eco ist jedoch viel stärker herauszulesen. Weit entfernt davon, Ecos Verschachtelungen und Mysterienkonstruktionen zu bemühen (oder: zu beherrschen), insistiert der Autor auf dem Verborgenen, dessen Einfachheit am Ende eben jene lucide Verblüffung auslöst, die Ecos Romanen zugrunde liegt. Andahazis Sprache ist einfacher, schörkelloser, eingängiger; sie spiegelt den Versuch des Verstandes wieder, das Unfaßbare zu begreifen. Ungarischer Abstammung, versteht Federico Andahazi es, dem "Lateinischen Stil" eine Komponente zuzuführen, die im Fabelhaften und Archetypischen wurzelt. Außerordentlich gelungen ist diese Fusion, in der typisch südslawische und ungarische Bildabstraktion in die elegante, feinschleifende Sprache lateinischer Dominanz wie in einem Tanz geführt wird; ein Stil, der "Im Land der Venus" noch zu selten aufleuchtet, im letzten Kapitel jedoch eindrücklich brilliert. Der Skandal aber, der, einem Virus gleich, als resistente Infektion im Bewußtsein zurückbleibt, ist das Unverständnis der Geschlechter füreinander. So sehr wir auch aus der rational überlegenen Sicht der Moderne auf die unwissenden Protagonisten des Romans hinabsehen, sind wir dem Mysterium doch nur scheinbar näher gekommen: Ohne den Schleier zu lüften.


Rubrik: Rezensionen


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