Romanfiguren

Freitag, 24. März 2006

Verhandlungen mit Romanfiguren VI

Schau, nichts hängt mehr an Dir, denn Du selbst. Die Tage ziehen weiter gleich den Vögeln, mal nordwärts, dann wieder südwärts, in Wolken folgen ihnen die Monate und man mag glauben, die Jahre seien Gewitter, Hagel oder anderes größeres Geschehen. Mitnichten. Jahrzehnte gehen dahin wie ein Wimpernschlag und dann, an einem Frühjahrsmorgen, wachst Du auf und weißt nicht, wo nach ihnen suchen; so leise schlichen sie davon, in jedem Augenblick ein wenig, stet und unabwendlich, flüstern über die Ferne des Lakens blasse Erinnerungen.

"Die Vögel nahmen mich Stück für Stück mit, jedes Jahr ein bißchen. Jetzt haben sie mich über die ganze Erde verstreut!"
In der ausladenden Handbewegung verliert sie die Zigarettenasche, vereinzelt rieseln winzige Partikel in ihr Haar, landen auf der Ungewißheit fließender Strähnen, inmitten der Suche. Nach eben dem Ungewißen. Ständig sind wir auf der Suche. Wenn ich grade mal nicht, dann sucht sie. Oder Jasmina sucht - und weiß noch lange nicht, was eigentlich. Während wir es schon nicht mehr wissen. Vergessen haben, was wir zu finden hofften oder zu behüten suchten. Wo unser Kostbarstes denn wohnt. Oder was es überhaupt ist, ob es je existierte oder nur ein Traum war, aus dem wir uns einfach zu erwachen weigern.
Besser, ich sage das jetzt nicht. Besser, ich warte den Mai ab und die Beltanefeuer.

Montag, 20. März 2006

Verhandlungen mit Romanfiguren V

Was Dir fehlt, sind die Ulmen. Die Pinienwälder der Küste und ihr samtener Nachmittagsschatten über dem kargen Boden, die Platanen der kleinen Städte mit den umarmenden Rundbänken auf den sonnengebleichten Plätzen. Dir fehlt: Das frühmorgendliche, nackte Gleiten in kühle Adria, noch im Schatten der steilen Küstenfelsen, die Luft über dem Meer, bevor die Sonne sich über die Klippenwälle hebt. Und Schlaf. Schlaf auf den Kieselstränden. Damit Du wieder mit den Krebsen reden kannst.

Und Maulbeeren, rufe ich aus.
Maulbeeren?
Ja, Maulbeeren.

Zwölf war ich. Es war an einem sonnigen Mittag auf Cres und wir in den kleinen Ort hinabgestiegen, M., sanft in eine weiche Bucht geschmiegt, kleine Marktstände, zwei Maulesel liefen herum, sie liefen dort immer herum und ärgerten die Touristen, luchsten und sturten ihnen eben gekauftes Obst ab. Eine Wassermelone unter dem Arm erblickte ich plötzlich diese Bienen- und Wespenschwärme über den klebrigen Flecken, mit denen die Bank unter dem großen Baum über und über bedeckt war. Was ist das für ein Baum fragte ich einen der Einheimischen, er verkaufte Flaschentomaten, Wein und Knoblauch. Bist Du aus dem Norden? erwiderte er, leicht verdutzt. Nördlicher als Norden, antwortete ich und deutete auf meine Addidas-Latschen. Er nickte, verstand: Warte. Ließ mich verunsichert stehen mit der viel zu großen Wassermelone in der gleißenden Sonne. Einige Minuten später kehrte er mit einer Leiter zurück, lehnte sie an den Baum und kletterte empor. Hinab kam er mit fünf frisch gepflückten, kleinen Früchten, die er behutsam in meine Rechte gleiten ließ. Der dunkelrote Saft hinterließ violette Spuren, Tage später noch trug ich sie in der Handfläche. Im Mund dann die Offenbarung: Nie hatte ich köstlichere Süsse geschmeckt, die Schlange des Südens ringelte sich mir um die Knöchel, formte Sandalenbänder aus Sinnlichkeit und Stolz. In die Woge meiner aufsprudelnden Sinne sagte er: Es sind Maulbeeren, sie gedeihen hier überall. Schmecken sie Dir? Ich nickte wild. Da lachte er und stieg erneut auf die Leiter.

Die Schlange des Südens weiß nichts von Äpfeln. Sie sitzt auf Maulbeerbäumen und es sind Männer, die ganz hoch klettern für die süßesten Früchte. Beruhigend.


Gut, sehr gut. Maulbeeren! lacht Jolanda. Platanen fehlen Dir und Maulbeeren fehlen Dir erst recht.
Ja, seufze ich leise. Ja.
Dann schreibs hin, sagt sie und verschwindet mit ihrer Pfeife unter den Platanen.

trsteno12

Über 600 Jahre alte Platanen im geliebten Trsteno, 28 Kilometer nördlich von Dubrovnik. Sie wurden, ob der schweren Kriegsschäden, von Jakel Grünbau im Jahre 2001 saniert, was nur mittels englischer Seilklettertechnik möglich war. Grünbau übernahm auch die Patenschaft für diese über 40 Meter hohen Giganten, die an der Basis einen Umfang von mehr als 12 m aufweisen. Solch fachkundige Patenschaft ist mir große Freude - von Herzen Dank nach Österreich.

Dienstag, 14. März 2006

Verhandlungen mit Romanfiguren IV

Geht mir nicht aus dem Sinn.
Geht mir nicht aus dem Sinn. Nicht aus dem Sinn
.

Obgleich sie aus dem Nichts tritt, ist mir, als sei sie zur Tür hereingekommen, habe aufgeschlossen, nachdem ich ihre Schritte auf der Treppe hörte. Sie grüßt nicht, wir haben all unsere Grüße aufgebraucht bis zur Neige. Ihre schlanken Finger sind langbeinige Spinnen, rascheln durch das auf dem Schreibtisch getürmte Papier, an Buchstaben entlang durch die Szenen und seilen sich ab am Durchgestrichenen, spinnen unsichtbare Fäden, assoziieren Staub und lange unberührte Winkel auf Dachböden; vergessene Koffer, alte Schränke, feucht-klamme, stockige, tintenklecksige Bücher, alte Besen und Lampenschirme aus billigem Brokatimitat.
"Was wirst Du jetzt tun?", fragt sie, all diese Zettel in Händen.
"Ich weiß es nicht", antworte ich und schiebe die Tastatur zur Seite, lege die Füsse auf den Tisch, lehne mich in die Kippe des Bürosessels, "Rutsch mal" sagt sie da und setzt sich, drückt mit ihrem Gesäß gegen meine Knöchel und legt ihrerseits die Füsse hoch, auf meine Armlehne.
"Du kannst alles tun".
"Kann ich nicht".
Sehr wach sind ihre Augen, fliegen über die zuletzt geschriebenen Zeilen: "Das ist gut".
"Nein, ist es nicht". Ich will nicht, dass sie es liest, ich will sie nicht hier haben, wünsche sie weit weg zu beliebigen Koffern und Lampenschirmen eines beliebigen Speichers in einer weit entfernten Stadt.

Mittwoch, 22. Februar 2006

Verhandlungen mit Romanfiguren III

Ihr Schatten streift meinen Schlaf und ich schrecke aus einem schweren Traum, dessen Inhalt mir sofort wieder entfällt. Dunkel und glatt wirken ihre Züge im Flackern der einzigen Kerze. Sie hält den Zettel in der Linken, auf den ich am Abend mit müden Fingern schrieb: "Ich schlafe heute Nacht auf dem Sofa und lasse eine Kerze an für Dich", bevor ich mein Nachtlager im Wohnzimmer aufschlug. Nein, sie ist keine Traumgestalt, sie ist so real wie ich oder so irreal wie ich - es macht keinen Unterschied, schon lange nicht mehr. Wer nicht intensiv schreibt, kann das nicht verstehen. Diese Plastizität der Figuren, ihr Leben, ihr flüsternder Atem, das morgendliche, geteilte Brot, ihre Anwesenheit bei jedem Schritt. Sie treten aus der Skizze für die nächste Szene und stehen plötzlich am Schreibtisch. Lassen nicht zur Ruhe kommen. Wollen Antworten. Wollen Fragen. Verlangen nach Kaffee, Wein, Zigaretten. Oder sitzen mitten in der Nacht neben uns, die wir ihnen ein Licht brennen ließen, auf dem Sofa.
"Ich habe gehört, wie er sagte, in Euren Texten sei so viel Blut*. Ob er wohl die ganze Bedeutung dieser Worte versteht? Du hast ihm nur die halbe Erklärung gegeben, so wie Du alles nur halb tust und somit am Ende nichts tust... Chianti?"
Beklommen nicke ich und sie nimmt das halbvolle Glas vom Tisch, hält es gegen das Licht. "Die Italiener verstehen etwas vom Wein. Und wir ja auch". Trocken lacht sie auf: "Roter Wein, rote Teppiche, rote Kleidung. In Deiner nächsten Wohnung wird sicher eine Wand rot gestrichen sein".
"Du weißt genau, dass ich lieber Weißen trinke".
"Aber Du trinkst seit Monaten Roten".
"Ja".
"Weil Winter ist".
"Ja".
Tief taucht ihre Nase in das durch Schwenken neu belebte Aroma. Lange und mit geschlossenen Augen zieht sie Molekül für Molekül ein, bevor sie einen Schluck trinkt. "Zu jung", dann ihr Urteil. "Wir waren mal Besseres gewohnt. Bevor wir auf den Hund kamen".
"Wenn Du gekommen bist, um Beleidigungen loszuwerden, spar Dir die Mühe. Seit Wochen renne ich Dir hinterher und bin einfach zu müde für dieses Geplänkel".
"In Ordnung". So abrupt stellt sie das Glas ab, dass die Obertöne noch lange nachhallen. Wir lauschen beide, bis sie verklungen sind. "Wie Du willst. Kommen wir zur Sache: Ich sterbe".
"Das ist unmöglich! Jeder Buchstabe, den ich schreibe, gibt Dir neues, ja: unsterbliches Leben".
"Nein".
"Nein? Schau Dich doch um, Ysaj! Skizzen zum Roman liegen herum, ganze Passagen sind gespeichtert auf CD, auf der Festplatte. Wie kannst Du da sterben?"
"Jolanda hat recht, Du begreifst es einfach nicht". Sie spricht so leise, dass ich kaum höre, was sie sagt, meine Nackenhaare aber begreifen und stellen sich auf: Die Ruhe vor dem Sturm, das fast sanfte Raunen vor dem Orkan.
"Ja, wir sind uns zu ähnlich, nicht wahr?" fragt sie schneidend. "Dieses immer ruhiger und stiller Werden bevor das Rot alles um uns herum in Trümmer legt".
"Das war einmal".
"Du willst sagen, das war bevor Du es mit schwarzer Tinte auf weißes Papier gebracht hast, gut versteckt in Deinen Buchstaben. Bevor es meins wurde".

Ich seufze. "Vielleicht ist das so. Vielleicht verstehe ich auch einfach nicht. Vielleicht habe ich Dich nur erschaffen, damit Du es mir sagst, darauf willst Du doch hinaus, oder?"
"Nein, wir sind mehr als nur das".
"Wir?"
"Jolanda hat Dir etwas gesagt beim Abwasch, hast Du das vergessen?"
"Sie hat es zu Dir gesagt!"
Ihr Lachen ist bitter: "Ist das nicht das Gleiche? Denkst Du, nur weil Du es geschrieben hast, sprach sie zu mir?"
"Gut, nehmen wir an, sie sprach zu mir. Nehmen wir an, sie wollte mir etwas damit sagen. Das beantwortet aber nicht meine Frage".
"Welche Frage?"
"Die Frage, nach der Du seit Wochen verlangst um sie mir dann nicht zu beantworten, Ysaj! Woher dieser Zorn?"

Schweigen. So dicht, dass sich die Stille zäh gen Boden tropft. In diesen endlos scheinenden Minuten höre ich die Katzen, wie sie durch den Garten schleichen und den Schlaf des Spechtes. Wir haben keinen Atem. Er ist im Zyklon des Sturmes gefangen, im noch nicht gefallenen Regen, in den Tiefen der Meere. Wie kann das sein? Wir haben keinen Herzschlag und sind doch schon alt, wissen um die beißende Kälte auf der sonnenabgewandten Seite des Uranus und die dunklen Nächte bei einem einzigen, winzigen Licht.
"Wer bin ich?" fragt sie plötzlich.
"Du bist Ysaj".
"Wer bin ich noch?" fragt sie, schenkt sich nach.
"Das habe ich noch nicht geschrieben".
"Weil Du es nicht kannst!"
"Das stimmt doch gar nicht, Ysaj".
"Ysaj!Ysaj! Immer Ysaj! Hast Du keinen anderen Namen für mich mit deinen lieblosen Tintenschmierereien? Ich sterbe!"
"Lieblos? Was in aller Welt redest Du denn da? Lieblos?"
"Du kannst es nicht schreiben weil Du nie geschrieben worden bist! Ist Dir das denn nicht klar?"
Ich nehme die Flasche vom Tisch und einen kräftigen Zug. Der Nacken brennt, während der Tod kalt und salzig aus ihm austritt.
"Ich wurde nicht geschrieben? Von wem? Wer schreibt das alles hier, Ysaj?"
Ihre Erregung wirft unsichtbare, spitze Funken.
"Du hast die Buchstaben nicht! Du hattest sie nie! Du kannst Liebe schreiben aber sie wurde nicht für Dich geschrieben. Darum sterbe ich, weil Du nur diese vier Buchstaben für mich hast".
"Vier Buchstaben? Was soll das jetzt bedeuten? Was willst Du, dass ich schreibe? Sag es und ich werde es schreiben!"
"YSAJ. Vier Buchstaben! Manchmal findest Du auch die üblichen drei: SIE. Ich will mehr als das, ich kann so nicht existieren, verstehst Du das nicht?"
Kopfschüttelnd stelle ich die Flasche zurück auf den Tisch. "Nein", hilflos hebe ich die Hände.
"Dann sag YSAJ mit anderen Buchstaben, sag es zärtlich! Schreib es hin".
"Ich kann nicht, Ysaj". Der Tod nun auch in den Handflächen, mein Tränen sind mir fremd, als liefen sie ein anderes Gesicht hinab. Und tatsächlich: Sie weint.
Wir schweigen bis zum Morgengrauen, bis der Specht seine Augen öffnet und die Meisen auf der Terrasse tippeln. Dann, endlich, greife ich zum Füller.

Ich habe Ysaj nie gesagt, dass ihr Name eine Kosung an sich ist, die rückwärtige Buchstabierung eines Kosenamens, denn Ysaj bewegt sich rückwärts durch meine Zeit. Sie aber wollte einen Kosenamen, den sie längst innehatte, Buchstaben, die ich ihr gab, damit sie nicht einsam sei unter den sterbenden Ulmen, einen Platz fände in sich selbst, an dem sie nisten und ruhen kann. Ins Leben treten. Und während ich dies schreibe, erinnert mich Ysaj daran, dass ich nie lange bei Menschen blieb, die mir keine Kosenamen gaben; nie vertraute ich dem Leben genug, die Buchstaben einzufordern und darum verließ ich sie oder sorgte dafür, dass sie mich verlassen.
Es ist Ysaj, die diese Worte schreibt in einer möglichen Zukunft. Es ist Jolanda, die diese Worte schreibt in einer sich ständig verändernden Vergangenheit. Meine Buchstaben sind ungeboren wie ich, sie ruhen im Auge des Sturmes, im noch nicht gefallenen Regen, in den Tiefen der Meere, einem Dasein ohne Atem.



[*parallalie über meine und Markus A. Hedigers Texte]

Montag, 20. Februar 2006

Widmung



Für Ysaj und June


21

Statues (mp3, 4,474 KB)

Verhandlungen mit Romanfiguren II

Es sieht so aus, als fände ich sie immer an irgendeinem Gewässer. Als sei das Wasser maßgeblich für unsere Begegnungen, als wohne in ihm ein Geheimnis, das wichtig für meine Suche ist. Von den Klippen erblicke ich sie, erkenne sie am riesigen Strohhut, der den Blick auf ihren Körper abschirmt. Ganz ruhig sitzt sie dort am Strand, döst vielleicht in der späten Sonne, und ich beginne meinen Abstieg, diesmal nicht darauf bedacht, mich unbemerkt zu nähern. Hier muss ich mich nicht anschleichen, nicht verstecken; sie wird nicht ausweichen und wußte wahrscheinlich schon, dass ich auftauchen würde, bevor ich mich überhaupt auf den Weg machte.
Am Liegestuhl, auf dem sie im Schneidersitz thront, an die hochgeklappte Lehne gelehnt, greift ihre Aura mächtig. Sie hebt den Kopf, blinzelt dieses irisierende Grün und wirft mir ein gefaltetes Badetuch hin. Mit dem Kinn bedeutet sie, mich zu setzen und ich bin froh, keine Diskussionen führen zu müssen. Meine Anwesenheit ist sofort selbstverständlich und ich nehme auf dem leuchtenden Gelb des Frottées Platz, blicke wieder auf eine Wasseroberfläche, diesmal eine wohlvertraute. Vor mir ein Lichtspiel sinkender Sonne: Farben jagen einander auf den Wellen und unter ihnen öffnet sich bewegte, lebendige Dunkelheit. So wie ich Ysaj verfolge auf dem Wasser, unter uns Tiefe, dunkle, lebendige Tiefe.

"Du erkennst die Adria am Duft nicht wahr? Den leisen Unterschied, den ihr Tanz durch eigenwillige Salzspuren auf der Nasenschleimhaut hinterlässt, die unverwechselbare Süße ihres uralten Traumes, keinem anderen Meer gleich. Und doch bist Du hier".
"Jolanda, ich..." Sie hebt die Rechte und ihr stummer Mund spricht: Schweig!
"Gib mir eine Zigarette", sagt sie. "Ach nein, Du hast ja keine. Du hast sie im Wald verloren, als Du hinter Ysaj herjagtest, die Du suchst".
"Ich muss sie finden".
"Sei still! Warte..."
Sie wühlt in ihrer großen Tasche herum und gibt mir dann eine Schachtel Lucky Strike: "Und jetzt gib mir eine Zigarette, zünde sie an". Ich öffne die Schachtel und sehe sofort mein Feuerzeug. Sie lacht leise, während ich zwei Zigaretten anzünde, hievt sie die Tasche auf ihren Schoß.
"Hier ist alles drin. Alles, verstehst Du?"
Ich nicke unbestimmt, reiche ihr eine der Zigaretten und ziehe den Rauch tief in meine Lungen. "Wie konntest Du nur Deine Zigaretten verlieren? Habe ich Dir nicht gesagt, dass der Tabak den Frauen unwiderruflich zugesprochen wurde von den Göttern? Weißt Du noch warum?"
"Zum Trost", murmele ich und inhalliere erneut.
"Ja, zum Trost! Von den Pflanzen der Hellsichtigkeit gar nicht zu sprechen, mit denen Du ja nichts am Hut hast! Kein Wunder, dass Du die Zigaretten verloren hast!"
"Jolanda! Ich muss Ysaj finden! Wo ist sie?"
Ihr lautes Gelächter wird von einem kurzen Husten unterbrochen. Sie wirft die Zigarette nicht weg sondern drückt sie in einer alten Konservendose aus, die sie ebenfalls aus ihrer Tasche zieht. "Gib mir die Tasche, Jolanda".
"Warum?", fragt sie mich leise.
"Wenn alles in der Tasche ist, dann ist Ysaj auch da drin".
"Nein", lacht sie erneut. "Ysaj ist nicht in der Tasche. Und Du auch nicht".
"Augenscheinlich nicht". Ich blicke auf meine Hände.
"Seit einer Ewigkeit sitze ich hier und warte, dass Du kommst und nach der Tasche verlangst. Und jetzt willst Du sie und willst sie doch nicht".
"Ich verstehe nicht..."
"Eben das ist es ja! Du verstehst gar nichts! Hier!" Sie reicht mir die Konservendose und ich asche ab. "Wo ist Ysaj, Jolanda?"
"Nicht in der Tasche. Wo ist sie, wenn Du Deine Augen schließt?"
"Ich weiß es nicht..."
"Warum schließt Du nicht Deine Augen statt zu plappern? Gib das her!" Unwirsch nimmt sie mir die Zigarette und die Blechdose ab. "Schließ Deine Augen!"

Orange. Blau tritt in das Bild ein - von unten. Bald wird es sein Komplementär vollständig der Leuchtkraft beraubt haben. Sie werden sich gegenseitig zersetzen. Möwen. Salzgeruch. Ein wohlbekannter! Adria. Das Blau steigt an, schwillt aus den Lidern von.. ja von was? und ich sehe Ysaj in einer Träne, die aus Fels tritt. Eine heiße Sonne steigt über den Horizont, trocknet die Träne und Ysaj liegt leblos auf den Felsen an der Küste. Angst reißt mir die Augen auf.
Der Strand liegt im Dunkel unter einem schmalen, diesigen Mond. Ich springe auf und starre auf e t w a s, das die Landschaft assimiliert hat, starre auf eingefrorene Zeit. Jolandas Atem dampft in der Kälte und tritt unendlich langsam aus, vereint sich mit dem Rhythmus der gleichsam langsamen Wellen. Plötzlich hebt sich das Meer und sein vor Gischt schimmernder Kamm legt einen Körper auf die Felsen. Ich haste über den Strand aber meine Schritte sind unendlich langsam, jeder Schritt dauert Tage, ich kann die erbarmungslose Sonne auf- und untergehen sehen. Als ich den Felsen erreiche, startt Ysaj mich an und fragt: "Angst um mich oder um Deine Geschichte"?

Jolanda steht neben mir, der nun rote Sonnenuntergang schimmert auf den Felsen. "Wo ist Ysaj?" rufe ich aus.
"Hast Du sie denn gesehen?"
"Ja", ich deute auf die Stelle, an der Ysaj vom Meer ans Land getragen wurde. "Hier lag sie, ich habe sie gesehen!"
Jolanda schüttelt langsam den Kopf, berührt den Fels, fast zärtlich fahren ihre Finger die vom Wasser gegrabenen Furchen entlang. "Hier wohnt nur Sturm und Hitze", sagt sie und wendet sich ab. "Und Tränen, viele, viele Tränen".
Ihre Schulter versteift sich unter meiner Hand. "Jolanda, was ist hier geschehen? Wo ist Ysaj? Sag es mir bitte!"
"Wo soll sie schon sein?" fährt sie herum.

Wohin gehst Du? Eigentlich wollte Ysaj es nicht wissen.
Da wandte sie sich gleich einer Schlange: Dich zu suchen!
Ja: ich lag auf den steinigen Felsen an der Küste, erlegt. Dort behagte es mir grade.
Am Abend dann sog sie an ihrer Pfeife. Über das Spülgeschirr warf sie das Leben wie roten Segen auf Ysajs Haupt: Wenn du so weitermachst, werden Dich die Möwen und die Krebse fressen.
Wieder das Kinn. Ysaj, trotzig: Ja und? - Woher nur dieser Zorn? -
Da lachte Jolanda das lucide Lachen. Das erste Mal ungeschminkt.
(Warum Ysaj erschrak? Als Kind wollte sie es immer hören, nicht nur als dumpfes Echo durch Nachttüren)
Wieder zog sie an ihrer Pfeife und sog die Luft gleichermaßen aus dem Raum.
Hach, lacht sie. Du, die Du tot und erschlagen herumliegst an unseren schönen Küsten und im Verwesen so gern stinken willst, zappelst aber heftig herum wenn ich Dich an die Fische verfüttern will.
Dann beugt sie sich ganz nah: Bleib fern von meinem Strand!


"Das habe ich kürzlich geschrieben! Es sind Skizzen zum Roman! Du hast es zu Ysaj gesagt!"
"Habe ich? Zu Ysaj? Siehst Du Ysaj denn hier?"
"Woher dieser Zorn, Jolanda? Woher?"
"So einfach geht das nicht. Eine Antwort aus der Tasche zaubern!"
Karmesinrot reflektiert ihr heller Strohhut die Sonne am Horizont. Sie läuft zum Liegestuhl, bückt sich, kehrt zurück, reicht mir die Zigarettenschachtel: "Hier. Du wirst Trost brauchen". Woher nur dieser Zorn?, denke ich wieder und lehne mich an die Felsen. Sturm und Hitze. Und viele Tränen. Bleib fern von meinem Strand!
Hatte ich dies wirklich geschrieben? War es überhaupt je geschrieben worden?
Der Strand liegt leer, ein letztes Lecken des roten Lichtes. Jolanda ist fort.



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Moloko (mp3, 4,588 KB)

Sonntag, 19. Februar 2006

Verhandlungen mit Romanfiguren I

Endlich finde ich sie, abseits des Flusslaufes, an einem kleinen Tümpel, in den sie Steine wirft. Als ich ans Ufer trete, hält sie inne, wendet mir aber weiterhin den Rücken zu. "Also hast du mich nun doch aufgestöbert", lacht sie bitter.
"Du weißt, dass ich das musste".
"Ach ja?" Sie bückt sich, nimmt einen großen Kiesel auf, wiegt ihn in der Hand.
Ich weiß, was sie denkt. Ob es einen Unterschied mache, ihn ins Wasser zu werfen oder sich umzudrehen und mir an den Kopf. Ob sie mich los wäre dann. Ihre Finger umkammern den Stein. "Warum verfolgst Du mich?"
"Verfolgen? Nein. Wir haben einfach zufällig den gleichen Weg", antworte ich.
"Bullshit!" fast spuckt sie das Wort aus.
Ich gehe einige Schritte vor, setze mich auf einen Felsen, der halb vom Wasser umspült ist, ziehe meine Schuhe aus und halte die Füsse ins lindernde Kühl. Wie sehen einander nicht an, vermeiden den Augenkontakt, in dem alle Antworten lauern - auf uns beide. Ich folge ihrem Blick, der einen ungewißen Punkt auf der Wasseroberfläche fixiert. "Weißt du", seufze ich, "vielleicht verfolge ich mich selbst auf Deiner Fährte".
"Bullshit!" wiederholt sie. "All das hier hast Du Dir doch ausgedacht! Die Bäume, das Wasser, die Dunkelheit, den Kies! Jeden meiner Schritte, den Schatten, der auf diesen Tümpel fällt! Soger dieser Stein", sie hebt die Hand, "mit dem ich Dir den Kopf einschlüge, wenn ich nicht wüsste, dass ich dann aufhöre, zu existieren! Sogar dieser Stein ist von Dir erfunden! Alles, alles hier hast Du geschaffen..."
"Wenn ich nur so sicher sein könnte!" brause ich auf. "Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, wer diese Geschichte schreibt und ob nicht Du es bist, die grade über einem Blatt Papier hockt mit kratzender Feder!"
"Nicht einmal mein Atem ist meiner!" schreit sie auf. Der Stein verfehlt meinen Kopf um Haaresbreite und fällt mit einem dumpfen Geräusch ins Wasser. Wir sehen uns an, fünfzehn Herzschläge zähle ich - meine, ihre? - Da ist es, jetzt wird es sich endlich zeigen in den gekreuzten Klingen unserer Blicke - und dann wendet sie sich wieder ab. Läuft los, am Ufer entlang und auf die Bäume zu.
"Wohin willst Du?" Sie antwortet nicht, läuft nur noch schneller. "Verdammte Scheisse!" entfährt es mir, dann hechte ich ihr nach, langbeinig wie sie aber keineswegs so geübt. Barfuß werde ich sie niemals einholen. Wenn ich sie nicht aufhalte, wird sie mir ein weiteres Mal entwischen. "So warte doch verdammt!" rufe ich ihr nach, als sie im Wald verschwindet.


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