Kommunion

Dann bereitete sich Annula auf ihre Heilige Kommunion vor, eine Zeit, in der auch die klügsten Kinder zu Fanatikern werden. Sie bestand darauf, mich zu taufen, bevor meine Seele in die Hölle käme. Es handelte sich um eine Notlage, eine Laientaufe war also gerechtfertigt. An einem Sabbatnachmittag folgte ich ihr in das warme, schleimige Wasser des Hudson. Wir standen bis zu den Knien drin. "Tiefer", befahl sie. Ihr Kleid bauschte sich auf dem Wasser: "Tiefer!" Als uns das Wasser schließlich bis an die Schultern reichte, sagte sie, ich solle den Kopf untertauchen. Sie wollte nachhelfen; sie drückte meinen Kopf nach unten. Nachher sagte sie, dies sei wichtig. Mein Kopf sei groß und jüdisch und benötige eine ordentliche Portion Wasser. Ich spürte das Summen in ihrer Brust, als sie lateinische Gesänge anstimmte, und dann kämpfte ich mit allem, was ich hatte, gegen meine Liebste. Zuletzt biß ich ihr in die Hand, da ließ sie mich los.

Ich schoß hoch hinauf in den kalten blauen Himmel, und einen Augenblick lang blieb alles so still wie unter Wasser. Dann rann mir das Wasser aus den Ohren, ich konnte Annula lachen hören und konnte nicht aufhören, mit ihr zu ringen, zu kratzen, zu beißen, zu schreien.

Tagelang ließ mich die Panik nicht los. Ich dachte, da ich schon fast gestorben war, könnte mich der Tod immer noch einholen; die Tage, die vergingen, könnten sich als Illusion erweisen. Der Tod war so einfach: eine Mädchenhand wie ein Stahlpoller im Wasser. Mir fiel auf, wie flach mein Atem ging. Wüde es einen nächsten Atezmzug geben?

Ich wartete, ich zählte. Eines Tages schlief ich nicht und verbrachte den ganzen Tag mit Zählen. An diesem Tag holte ich vierundzwanzigtausendvierhundertachtzigmal Luft. Die Zahl schien mir von tückischer Regelmäßigkeit zu sein: durchschinntlich eintausendzwanzig Atemzüge in der Stunde. Wäre ich nicht so aufgeregt gewesen, hätten es auch genau tausend sein können. Am nächsten Tag zählte ich das Blinzeln meiner Augen. Aber meine hinterhältigen Augen wollten nicht blinzeln, wenn sie sich beobachtet fühlten.

In einem Alter, in dem die meisten Menschen ihren Körper als Verbündeten ansehen, als einen Quell der Freude, hatte ich den meinen bereits als Feind identifiziert, als Verräter, auch wenn er scheinbar gut zu mir war. Und die böse Kraft dahinter war die Natur.

Deshalb begann ich mich für die Wissenschaft zu interessieren. Ich verliebte mich in die Natur, wie man sich in eine kalte Frau verliebt, die die Zuneigung, die man ihr entgegenbringt, selten erwidert. Ich beschloß, mein ganzes Leben dem Versuch zu widmen, sie zu verstehen.



[Aus: Der Doktor braucht ein Heim, Irene Dische, Suhrkamp Verlag]


Texte
bvl - 1. Aug, 12:25

wissenschaft

als sakrale kompensation?

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