Mittwoch, 9. November 2005

Atme mich

Komm, atme mich.
Atme das Nichts, den Urgrund von Raum, von Zeit, von Sein.
Atme mich, geh nicht fort.
Atme mich.
Schließ nicht die Türen, die nichts trennen
nichts verbinden
ins Nirgendwo führen.
Atme mich.
Hier, inmitten des Nichts,
wo alles stillsteht.
Atme mich.
Atme mich zwischen
den Welten, im Niemandsland
auf dem Zaun der
Nichts von Etwas
und Etwas von Allem
trennt. Atme mich.
Komm, geh nicht fort
aus dem Nichts, der Leere
den unbegrenzten Möglichkeiten
mit ihren kleinen Sandkörnchenaugen.
Atme mich in der Stille:
Jenseits von mir.
Von Dir. Von uns.

Atme mich.



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Foto by: Doris Stevermüer

doris_sanduhr

Gelübde.

Jasmina verzog das Gesicht und warf die halb geschälte Marone weg.
Ja, so war das: Es sah köstlich aus, eine vollkommene Schale, ein aromatischer Duft und am Ende war der Wurm drin, nunmehr vom Feuer geröstet, gar geworden durch die Hitze im Topf, der über der Feuerstelle hing.
"Würmer essen", murmelte sie. "Wer will schon Würmer essen?!"
"Hmh?" fragte Ysaj über das Feuer, eine Marone in der Hand.
"Ich meine, warum schleppt sie die Maronen über 1500 Kilometer mit, wenn die Hälfte von ihnen verwurmt ist?"
Ein Grinsen. "Wenn die Würmer sie mögen, kannst Du sicher sein, dass es Ökomaronen sind, wilde Maronen halt".
"Sie war schon immer so", murrte Jasmina, während sie eine weitere Marone von einer Hand in die andere rollte, um sich nicht zu verbrennen. Kauend meinte Ysaj: "Bevor Du hermnörgelst, dass jemand Dir Maronen von weit her mitbringt, solltest Du erstmal lernen, w i e man Maronen ißt. Man muss sie schwitzen lassen nach dem Topf, in ein Tuch einschlagen und ruhen lassen für einige Zeit. Dann lassen sie sich viel leichter schälen - und Du verschwendest nicht Minuten darauf. Ärgerst Dich auch weniger über die Würmer", setzte sie schmunzelnd nach und griff nach ihrem Weinglas.

"Es ist mir egal, ob ich dreißig Sekunden schälen muß oder dreißig Minuten, wenn der Wurm drin ist, ist der Wurm drin".
"Aha".
"Sie war schon immer so".
"Wie?"
"So... alles mit herumschleppend. Sie trug die Würmer lieber mit sich herum als mich, wollte mir sogar einreden, ich müsse hinter diesem Ballast, den sie sich, den sie uns aufhalste, zurückstehen. Aber es hat nichts gebracht, gar nichts!Wer will schon Würmer essen?"
Die Eßkastanie flog ins Feuer, einige Funken stuben, ein kurzes Zögern, dann leckte das Feuer mit vereinter Flamme ruhig die Schale entlang.
Der Wurm war drin, überall. Liebe nicht, vertraue nicht, denn die Geliebten und Freunde werden sich abwenden, wenn nicht durch Umstände oder Vorfälle, dann wird die Zeit sie wegspülen und in dir wird die Leere klaffen, die sie hinterlassen, das Stück, das sie dir aus dem Fleisch gerissen haben, das nicht nachwächst. Glaube niemandem, es gibt keine Beständigkeit, es gibt keinen Ort zum Rasten; du mußt weiter, immer weiter, gehetzt vom eigenen Pulsschlag, vom Atem der jagenden Sekunden, während du noch vom Nisten träumst. Weil du die Würmer nicht mit dir herumschleppen willst, mußt du allein gehen, nichts wird bleiben, niemand wird verweilen, denn der Wurm ist nun einmal drin in der Sache. Sie hat ihn dir vorgezogen, das war ihre Wahl, mit der mußt du jetzt leben. Es gibt kein Vertrauen, in jeder Umarmung lauert der Verrat; die Tatsache, dass er nicht heute hervorkommt ist vollkommen egal. Morgen wird er sich an dich heranschleichen oder in einer Woche, einem Monat, einem Jahr, zig Jahren, sich aus einer Umarmung herausschälen, ohne Vorwarnung, und in deinen Nacken springen, ein Stück aus dir herausreißen und dich zurücklassen mit weniger, als du zuvor warst. Jasmina zitterte. "Ich verstehe nicht, wie Du weitermachen kannst", murmelte sie. "Ich verstehe es einfach nicht". Auf allen Vieren kroch sie zu Ysaj, legte den Kopf auf deren Oberschenkel, bettete ihn wie zum Schlaf, das lange Haar fiel herab und kitzelte Ysajs Füße. Jasminas Augen waren sehr dunkel, das Gesicht vom Feuer abgewandt, sanfte Schatten über den Brauen, schaute sie nach oben, blickte Ysaj aus den Tiefen des eigenen Schoßes an: "Warum?"

Ja, dem Leben war nicht zu trauen; nur dem Tod kannst du vertrauen, er hat noch nie jemanden betrogen, allein der Tod ist wahrhaftig, gaukelt nichts vor, an ihm prallt der Verrat ab, lässt ihn unbeeindruckt, still. Er wird dich nicht verlassen, dich nicht hintergehen, dich nicht täuschen, nicht von der Zeit mürbe gemacht werden. Seine Hinterlassenschaften sind nicht bitter. Verhalten lachte Ysaj auf, der rote Lebenszorn stemmte sich gegen ihre Schläfen, weigerte sich, weiter darüber nachzudenken, Jasminas stummen Worten zu folgen auf einen Pfad, der ihm verboten war, ihn ausschloß, sinnlos machte. Ja, warum?

"Wegen der Schnecken".
"Was?"
"Wegen der Schnecken".
Für einen langen Moment schien Jasminas Gesicht vollkommen in der Zeit eingefroren, eine Mischung aus Erstaunen, Fassungslosigkeit und Befremdung hatte die Züge vollständig gelöst und geglättet; es war ein anderes Gesicht, eine andere Jasmina lag dort, aus der plötzlich ein mänadenhaftes Gelächter ausbrach, das die Tränen in die Augen trieb. Ysaj fiel augenblicklich mit ein, sie lachten und lachten, lachten, bis der Leib schmerzte, lachten weiter, japsten kichernd nach Luft und fielen in neue Lachsalven, lachten Tränen, hielten sich den Bauch, lachten Sphären - bis die namenlose Belustigung langsam abebbte und einer heiteren Stille Raum gab, nur ab und zu unterbrochen von einem Glucksen, einem Kichern, einem Grinsen und dem Knistern des Feuers.
Die andere Jasmina wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
"Schnecken", kichert sie. "Du bist wirklich seltsam".



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Rubrik Ulmenjahr

Millimeter.

Das Risiko i s t die Haut. In jede Sekunde, in jedem Atemzug.

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